Romantisch mutet er an, der afrikanische Victoriasee, mit den kleinen traditionellen Fischerbooten, die Wasseroberfläche glitzert in der Sonne. Doch die Idylle trügt. Der größte See Afrikas und die umliegenden Städte sind Schauplatz einer der modernen Tragödien im Zeichen der Globalisierung, und jetzt auch Schauplatz eines aufrüttelnden Dokumentarfilms von Hubert Sauper. „Darwins Alptraum“, jüngst mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, erzählt die Geschichte des Nilbarsches (Lates niloticus), am Beispiel von Tansania, bis 1918 als Deutsch-Ostafrika deutsches Schutzgebiet und heute eines der ärmsten Länder der Erde, zu dem die meiste Fläche um den See gehört. In den fünfziger Jahren wurde der „Victoriabarsch“ von britischen Kolonialbeamten als neue Nahrungsquelle ausgesetzt, anschließend breitete sich der bis zu 70 Kilogramm schwere Raubfisch rasant aus und verdrängte dabei über 300 heimische Buntbarscharten. Die lokalen Kleinfischer traf das Vordringen des Bioinvasoren schwer, doch der Export nach Europa blüht – täglich werden mindestens 500 Tonnen Victoriabarsch-Filets ausgeflogen. Etwa zehntausend neue Arbeitsplätze wurden in hochmodernen, von EU und Weltbank finanzierten Fischfabriken und angeschlossenen Unternehmen geschaffen, heißt es offiziell. Doch diese Rechnung geht nicht auf: Achtmal so viele Arbeitsplätze wurden dadurch vernichtet, 95 Prozent der Menschen sind faktisch arbeitslos und kämpfen um das nackte Überleben. Wie im Europa des 19. Jahrhunderts findet eine Landflucht in die zum Teil industrialisierten Ballungsräume statt. Jede Art von Tätigkeit ist wertvoll: Die Verkäuferin gesundheitsschädlicher Fischabfälle schätzt sich glücklich, andere Frauen werden Prostituierte der Fischarbeiter und der ukrainischen Billigpiloten. Viele Männer lassen sich, wenn sie in den Fabriken keine Stelle finden, als Söldner für Kriege in Nachbarländern anwerben. Es gilt das Recht des Stärkeren – „Darwins Alptraum“ total. Eine besonders schwache Position haben die Kinder. Vielfach sind deren Eltern an der grassierenden Aids-Seuche gestorben. Verwaist leben sie auf den Straßen der Großstädte um den See, ernähren sich von Abfällen und schmelzen die Plastikverpackungen aus der Fischfabrik zu einer Lösung, die sie dann schnüffeln. Manchmal bekommen sie etwas Reis von Hilfsorganisationen. Die industriell verfeinerten Filets des Victoriabarsches kann sich fast kein Afrikaner leisten. Den Menschen, aus deren Land der Überfluß kommt, bleiben nur die Reste: Fischköpfe und -skelette, die unter den erbärmlichsten hygienischen Bedingungen gebraten und verkauft werden. Was nicht einmal dafür in Frage kommt, wandert auf ominöse Fischmüllhalden, zu denen Westler aus gutem Grund keinen Zutritt erhalten. Und so stellt sich der schwarze Kontinent im ganzen Film dar: Afrika als Müllhalde der „zivilisierten“, westlichen Industrienationen. Die verderbliche Logik einer zügellosen Marktwirtschaft und das häßliche Gesicht der hemmungslosen Globalisierung wird offenbar. Diese Erkenntnis verschärft sich noch, wenn man bedenkt, daß Tansania seit den neunziger Jahren als Drehscheibe für Waffenschmuggel fungiert. Denn die Flugzeuge, die den Fisch nach Europa bringen, kommen nicht leer: An Bord tragen sie wahlweise Waffen, Munition und Panzer, oder – ironischerweise – Hilfsgüter, die bei Zwischenstopps in Zentralafrika ausgeladen werden. „Nach dem Krieg um Land hat nun ein Krieg um Rohstoffe eingesetzt“, erklärt verbittert ein tansanianischer Journalist. Damit nicht genug, ist in der Umgebung des Victoriasees auch die ökologische Katastrophe vorprogrammiert: Eine Wasserhyazinthenart, die wie der Nilbarsch von den Kolonialherren ausgesetzt wurde, überwuchert heute weite Teile und sorgt damit für Sauerstoffmangel. Deswegen und wegen allgemeiner Verschmutzung droht der See bald umzukippen. Darüber hinaus sind die ufernahen Wälder fast vollständig abgeholzt – der neuartige Riesenfisch kann nur durch Räuchern haltbar gemacht, nicht wie die heimischen Buntbarsche (Cichlidae) an der Luft getrocknet werden. Auf der Suche nach Schuldigen an diesem Elend darf man es sich nicht zu leicht machen: Es gibt kein festes Feindbild. Zumindest ist es, wie meist, nicht bei den aktiv Handelnden zu suchen, sondern bei denen, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Die ukrainischen Piloten, die die Waffen transportieren, wollen ihre Familien zu ernähren. Der tansanianische Fabrikbesitzer glaubt, Arbeitsplätze zu schaffen. Die EU will Entwicklungshilfe leisten. Ganz abgesehen von den großen Konzernen und der großen Politik: In einer nach Angebot und Nachfrage funktionierenden marktwirtschaftlichen Welt haben aber auch die Konsumenten eine mitentscheidende Macht. Niemand ist „gezwungen“, Victoriabarsch-Filet zu kaufen. Und auch aus ganz anderen ökologischen Gründen (Transportaufwand, Überfischung der Meere usw.) wäre es viel besser, wenn heimischer Fisch – auch aus Aufzuchtbetrieben – bevorzugt würde. Junge Afrikaner am Victoriasee, Abfallberg mit Victoriabarsch (o.): Die Verkäuferin gesundheitsschädlicher Fischabfälle schätzt sich glücklich, andere Frauen werden Prostituierte der Fischarbeiter
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