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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Die Revolution und wir

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Neben der industriellen Revolution bezeichnet die politische der Franzosen eine Kulturschwelle, als „große“ ist sie Menetekel, Prophetie und schreckliche Erfüllung zugleich. Der vielberufene „Zivilisationsbruch“, der hier erstmals erscheint, impliziert fast alle Momente totalitärer Herrschaft. Wie aber konnte der „Block“ von 1789-99 zum Gründungsmythos werden, Aufklärung und Terror zum Regulativ unserer Welt? Auch weil Verheißung den Schrecken überblendet, Formeln ihn diskret verhüllen. Es ist wichtig, an die Revolution zu erinnern, wichtiger, es genau zu tun, entscheidend, ihr Eigentliches zu verstehen. Gehen doch nicht bloß Faschismus und Kommunismus auf sie zurück, auch das liberale System. So zeigt der Ursprung gleich den Kern politischer Modernisierung, seine totalitäre Substanz. Säkulare Modernisierung verkürzte den universalen Logos zum bloßen Verstand. Das Immanenzprinzip beerbt das Absolute negativ: als Endliches dogmatisiert, universalisiert es sich letztinstanzlich zur „schlechten Unendlichkeit“. Erschien dies im letzten Jahrhundert als autoritäre Gleichschaltung, so in der Postmoderne als repressiver „Individualismus“. Zwischen Masse und Einzelnem, Anarchie und Despotismus oszilliert die totalitäre Moderne, so faßte auch Hippolyte Taine ihr Prinzip. Sein Revolutionswerk behauptet sich bis heute in der Forschungsgeschichte. Diese, wiewohl kontrovers, durchzieht ein affirmativer Grundkonsens. Fundamentalkritik blieb rar, zumal die Dritte Republik explizit an 1789 anknüpfte. Quer zu anderen populären Darstellungen der Französischen Revolution – von Adolphe Thiers, Jules Michelet oder Alphonse Aulard – stellte ein Werk den Sinn der Revolution radikal in Frage. 1875-93 publizierte Hippolyte Taine (1828-93) seine „Entstehung des modernen Frankreich“, eine in Konzeption und Ausführung gewaltige Studie zu sechs Bänden, ein klassisches Werk seines Jahrhunderts. Für Taine, erschüttert durch die Niederlage 1871 und vom Aufstand der Kommune, wurde der nationale Kurs seit Louis XIV. jetzt fraglich. Sein Werk suchte die Gründe freizulegen. Es tut dies dreiteilig, beginnt beim Ancien Régime, entfaltet den mittleren Verlauf der Revolution, die letzten Bände widmen sich Napoleon und seinem Staatsneubau. Das weniger dem klassischen Historismus verpflichtete als strukturgeschichtlich gearbeitete Werk wirkt modern durch massive Einbeziehung sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Fakten. Exorbitant die Quellenbasis und meisterhaft die Darstellung. Taine war gut gerüstet. Nach Jahren in Schuldienst und Journalismus lehrte er 1864 bis 1884 als Kunsthistoriker an der Pariser Hochschule der Schönen Künste. Auf seine europäischen Reisebücher (1855-72) waren Arbeiten zur französischen Philosophie (1857) gefolgt, Meisteressays (1858-94), eine monumentale Würdigung der englischen Literatur (vier Bände von 1864), schließlich eine Ästhetik (1865-81). Taines „idealistisch“ veranlagtes Revolutionswerk besticht durch Tiefenanalyse und philosophischen Geist. Für ihn sind geistige Prinzipien die eigentlich historischen Subjekte. Sie erst lassen die Revolution begreifen, weshalb die Massenpsychose und Gewalteskalation, das Kollektivsyndrom von „Diebstahl und Mord“, das bestialische Triebe stimulierte, einen Imperialismus gar und die Franzosen selbst im neuen Staat kaserniert hat. All das führt auf eine, den Menschen deformierende Ideologie, eine makabere „Gesinnungsethik“. Die lieferte der autoritäre Rationalismus: ominöse Mutante des „ésprit classique“ bei den aggressiven Aufklärern. Ihnen erscheint die alte Gesellschaft als „Skandal“, „denn sie ist nicht von einem philosophischen Gesetzgeber“ durch ein Prinzip fundiert, sondern „Generationen haben sie mit Rücksicht auf ihre vielfältigen und wechselnden Bedürfnisse eingerichtet. Sie ist nicht das Werk der Logik, sondern der Geschichte.“ Deren Sinnstrukturen werden von den Aufklärern nicht gewürdigt, vielmehr pauschal verworfen. „Die absolute Souveränität der Vernunft“ sieht hier nur Irrtum, Wahn, Fanatismus. Empört verwirft sie das Alte, ruft auf zum Kampf. Dies Motiv führt ihn nun vom Ancien Régime zu Napoleon. Ungeschminkt zeigt das Werk die Revolution als Massenpsychose und menschenverachtende Brutalisierung. Der maximal politisierte öffentliche Raum provoziert den Exzeß rhetorischer Gewalt mit tödlichem Ausgang. So katapultiert die Hysterisierungsspirale der Ereignisse notwendig die radikalste Gruppe zur Macht. Das aber waren die Jakobiner. Die Revolution ist Taine „Eroberung Frankreichs durch die Jakobiner“, derer die mit bestem Glauben und den geringsten Skrupeln handeln. Mit dem Resultat, daß schließlich „die privaten und öffentlichen, die lokalen und die parlamentarischen Freiheiten abgeschafft sind; daß die Regierung willkürlich und absolut ist“, „kurz, daß es keine Menschenrechte mehr gibt“. Nach Taine haben Forscher wie Cochin, Gaxotte, Kennedy den Jakobinismus weiter verfolgt. Revolutionärer Größenwahn und absolutistischer Utilitarismus setzten sich unter Napoleon fort. Breit würdigt Taine im dritten Teil den Schulsektor als Staatsmonopol, berichtet widerwillig von unterdrückter Presse und Literatur und kommentiert die Situation der Wissenschaften. Ihn interessiert die reglementierte Historie, ihr prekärer Status als moderner Legitimationsdiskurs. Die Geschichte, so Bonaparte, dürfe man nicht den Gelehrten überlassen, man müsse sie lenken, geradezu „machen“. Taine: „Vor allem heißt es, sich des Geistes versichern, in welchem Geschichte geschrieben werden soll.“ Die genozidalen Ausrottungsphantasien um 1800 verhießen dem Skeptiker nichts Gutes. Düster prophezeite er „Massenmord und Bankrott (…) die Perversion produktiver Entdeckungen und Perfektionierung destruktiver Verwertungen“. Jetzt erinnert sich „Die Bibliothek des skeptischen Denkens“ des Autors und beschert uns eine Neuausgabe. Die attraktive Reihe hat Schriften von Francis Bacon, La Bruyère, Adam Müller und Schopenhauer ediert; schon bald sollen Taines „Essays zu Literatur und Geschichte“ folgen. Taines gewaltiges Geschichtswerk erschien erstmals auf deutsch 1877-94 in drei starken Bänden. 1954 brachte eine Popularvariante eine Auswahl des Werks. Die wurde jetzt unverändert nachgedruckt. Leider ist die Freude nicht ungetrübt, die Textgestalt wirkt flüchtig und lieblos. Natürlich kann der Band nur einen Ausschnitt bieten; problematisch freilich bei einem Werk, dessen weitgespannte Konzeption auch jede Einzelstelle dimensioniert. So sind die ersten 19 Kapitel des Originals hier geschrumpft auf vier. Taine hatte sie verteilt auf fünf „Bücher“: „Bau der Gesellschaft“, „Sitten und Charaktere“, „Der Geist und die Doktrin“, „Ausbreitung“ und „Das Volk“. Stirnrunzeln verursacht vor allem der Wegfall des grundlegenden gesamten dritten Buches, dessen Thesen sich der Leser nun aus dem Hauptteil erschließen muß. Halbwegs glücklich der sechste Teil mit dem napoleonischen Menschenbild, dann der siebte vom „Neuen Staat“, mit zehn Kapiteln die vielleicht beste Kürzung der letzten Bände. Ist die vorliegende Fassung immerhin begrüßenswert, verstimmt allerdings das nachgeschmissene, ebenso läppische wie fehlerhafte Nachwort von 1954 ernstlich. Hans Eberhard Friedrich, Hrsg.: Hippolyte Taine. Die Entstehung des modernen Frankreich. Aus dem Französischen von Leopold Katscher, Verlag Johannes G. Hoof in Warendorf, 2005, 690 Seiten, broschiert, 22,80 Euro. Bild: Satirisches Flugblatt von 1793 auf Robespierre, der eigenhändig als letztes den Henker richtet: Provoziert durch rhetorische Gewalt

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