Von Haus aus Jurist, ist Giorgio Agamben zugleich Philologe: Geschichtliche Spurensuche und Sinn für Struktur und Kasuistik greifen in seinem uvre ineinander. Vielfältig und die Schranken der Rechts/Links-Unterscheidung unterlaufend, stellen sich seine wesentlichen intellektuellen Bezugnahmen dar: Heidegger, bei dem er noch ein Seminar absolvierte, Derrida, Kafka, Walter Benjamin, die Warburg-Schule und immer wieder Carl Schmitt sind die Projektionspunkte. Die fulminante Rezeption der verschlüsselten Schriften des Meisterdenkers, der heute in Venedig eine Professur für Philosophie innehat, aber zugleich in der ganzen Welt lehrt (in diesem Wintersemester in Düsseldorf), scheint einem auf Platitüde geeichten Zeitgeist zu widersprechen. Sie verlangt deshalb nach Erklärungen. Das zentrale Emblem in Agambens politischer Theorie ist der homo sacer, eine von ihm aus dem archaischen römischen Sakralrecht rekonstruierte Figur, die straflos getötet, nicht aber geopfert werden darf. Das Epitheton sacer ist doppeldeutig, es verweist gleichermaßen auf Heiligung und Fluch. Für Agamben wird es zum Sinnbild für die Souveränität, die das „nackte Leben“ in ihren Bann nimmt. Bei allen Exkursen in archaische Vergangenheiten ist erkennbar, daß es Agamben, in der Folge von Heideggers Diagnose metaphysischen Nihilismus, um eine Beschreibung europäischer geschichtlicher Kontinuitäten und ihre Fokussierung auf die Moderne geht: Ihm kommt dabei unstrittig das Verdienst zu, zu zeigen, daß in der Moderne der Ausnahmezustand zur Regel zu werden drohe und daß es eine strukturelle Übereinstimmung zwischen Demokratien und Totalitarismen gebe. Der Schattenwurf des 11. September 2001 ist gerade in jüngeren Schriften unverkennbar. Dabei fällt auf, daß Agamben seine Diagnosen nicht auf globale Weltunordnung und Weltstaat erweitert, sondern in der Kritik der Bush-Administration verharrt. Paradigma des Ausnahmezustandes und der Souveränität ist ihm das Lager. Er nennt es den Nomos der Moderne, in dem Recht und Regel einerseits, Ausnahme andererseits zur Ununterscheidbarkeit verschwimmen. Hochproblematisch sind aber die normativen Ausblicke, die Agamben skizziert: Ausgehend von Hannah Arendts Kategorie der Nativität beklagt er, daß der Menschenrechtsgrundsatz nach Rousseau, wonach alle Menschen frei geboren sind, an die Mitgliedschaft einer Nation gebunden bleibe. Die elementare, aus Hegels Rechtsphilosophie zu schöpfende Einsicht, daß das abstrakte Recht erst durch Verortung in einem Ethos und einer Überlieferung Bindekraft gewinnt, scheint ihm fremd zu sein. Gegenüber der bannenden Kraft der Souveränität drängt er auf eine „Politik der Beziehungslosigkeit“, eine Gemeinschaft ohne gemeinsame Substanz. Damit wird Derridas Atopie einer „Politik der Freundschaft“ und unkanalisierten Vielstimmigkeit noch übertrumpft, übrigens im Rückverweis auf die von Systemtheorie (Luhmann) und Diskursethik (Habermas) sehr zu Unrecht unter Quarantäne gestellte Aristotelische Frage nach dem guten Leben: „ein Leben, in dem es, so wie es gelebt wird, um das Leben selbst, ein Leben der Möglichkeit, geht“. Es ist deutlich, daß Agambens Politik-Konzeption damit nichts zu den Verwerfungen einer komplexen, durch Auflösung von Ligaturen gekennzeichneten Moderne beiträgt; sie kontrastiert diese lediglich in schlechter Unmittelbarkeit mit einem goldenen Zeitalter. Damit skizziert er seine Ethik, die wie in einer Fluchtbewegung sich von juridischen und politischen Begriffen ablöst. In diesem Zusammenhang spielt die Differenz zwischen überlebenden Zeugen der Konzentrationslager (von Auschwitz) und den Getöteten eine entscheidende Rolle. Die Geschichte der Moral sei in Auschwitz fehlgeschlagen, zugleich soll jener katastrophische Nullpunkt selbst eine neue Ethik eröffnen: „Die Menschen sind Menschen, insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen.“ Zweifelhaft ist die unbefragte Vermischung von Historie und metaphysischem Wendepunkt, die von Adorno übernommene Fetischisierung von Auschwitz zu einem „Unnennbaren“, das gleichwohl, scheinbar ohne Umstände, zur Mitte weitreichender Konzeption stilisiert werden kann. Agambens fulminanter Erfolg deutet zweifellos auf eine tiefe Krise der Moderne und der liberalen rechtsstaatlichen Ordnung hin. Daß er, anders als eine common sense-Theorie politischen Liberalismus in der Folge von Rawls oder Habermas, über den Vertragszustand hinausblickt, zeigt ihn auf der Höhe der gegenwärtigen Weltlage, die vom Ausnahmezustand her zu denken nötigt. Die Verweise auf Carl Schmitt und seinen Nomos-Begriff können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Agamben keinerlei Verständnis für die zivilisierende und hegende Kraft neuzeitlicher Souveränität und für die Form des Staates hat. Insofern nehmen sich seine Analysen neuzeitlicher Souveränitätsgeschichte wie Destruktionen der politischen Identität Europas aus. Verfolgt man Agambens uvre von den „Stanzas“ (1973), einer subtilen Deutung der Rolle der Melancholie in der italienischen Liebesdichtung des 13. Jahrhunderts, über die Bemühungen, einen nicht wissenschaftlich fixierten, phänomenologisch weiten Erfahrungsbegriff zu gewinnen, bis zum gegenwärtigen Stand des homo sacer-Projektes, so kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, ein subtil alteuropäischer Textdenker habe sich durch die Zeitgeistkonjunktur zunehmend korrumpieren lassen. Zunehmend tritt an die Stelle verdichtender Strukturanalysen eine Assoziation gegenwärtiger Nachrichtenlagen mit philologischen Funden. Auf dem Höhepunkt ihrer weltweiten Rezeption scheint die intellektuelle Potenz von Agambens Verfahren weitgehend erschöpft. Im Umgang mit dem in schmalen Schriften explodierenden uvre dürfte daher Gelassenheit angebracht sein. Er kann manches sehen lehren, seine Genialität ist indessen erborgt: von Carl Schmitt, Benjamin, Heidegger, Derrida oder Deleuze. Die von Agamben gelesenen Spuren verlangen deshalb nach gründlicher Neuaneignung, die sich von seinen Rezepten entfernen muß: in der Spannung von Recht und vorrechtlichem Zustand und auf der Suche nach dem guten Leben. Prof. Dr. Harald Seubert , Jahrgang 1967, ist Dozent für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bild: Giorgio Agamben: „Die Menschen sind Menschen, insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen“