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Fortschreitende Entfremdung

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Schon vor der belgischen Parlamentswahl vom 10. Juni galt es als sicher, daß der flämische Liberale Guy Verhofstadt als belgischer Ministerpräsident abgelöst werden würde. Zu viele Wahlversprechen aus den vergangenen acht Jahren hatte er nicht eingelöst: Eine Reform des Justizwesens, nach dem bis heute mysteriösen Mord- und Kinderschänder-Fall Dutroux ins Rollen gebracht, ist bis heute nicht erkennbar. Auch die seit 30 Jahren gebetsmühlenhaft geforderte Teilung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde entlang der Sprachgrenze ist noch nicht erfolgt. Die flämischen Liberalen (VLD) verloren sieben ihrer 25 Mandate.

Wahlsieger Leterme vor schwieriger Partnersuche

Im Vorfeld der Wahlen warnte Verhofstadt davor, die Christdemokraten (CD&V) des flämischen Ministerpräsidenten Yves Leterme zu wählen. Diese seien nämlich mit der nationalistischen und vor allem separatistischen Neue Flämische Allianz (N-VA) von Bart Dewever und Geert Bourgeois eine Listenverbindung eingegangen. Wer für die CD&V/N-VA stimme, der sei auch für eine Aufteilung Belgiens. Ausgerechnet dieses Votum haben die flämischen Wähler am Sonntag abgegeben: Der CD&V/N-VA-Block gewann acht Mandate hinzu. Er ist mit 30 von 150 Sitzen eindeutig stärkste Kraft in Flandern und auch belgienweit.

An Stimmen zugelegt hat auch erneut der rechte Vlaams Belang (VB) als die authentische Partei der flämischen Unabhängigkeitsbewegung, wegen des komplizierten Wahlrechts verlor der VB aber einen Sitz. Überraschend schaffte auch die zum ersten Mal angetretene rechtsliberale flämische Liste Dedecker, eine faktische "Einmannpartei", die durch den Bruder des ermordeten niederländischen Politikers Pim Fortuyn prominente Unterstützung erhielt, mit fünf Kandidaten den Sprung ins Parlament. Jean-Marie Dedecker gehörte der VLD an, bis er wegen der Forderung ausgeschlossen wurde, den politischen Bann (cordon sanitaire) über den VB endlich aufzuheben. Nach einer Kurzmitgliedschaft bei der N-VA gründete er im Januar 2007 zusammen mit anderen Ex-VLD-Leuten seine eigene Partei. Wie in den Niederlanden bei Fortuyn und jetzt Geert Wilders (dessen PvdV dort 2006 viertstärkste Partei wurde) war auch die Warnung vor der islamischen Unterwanderung Belgiens ein Hauptthema. So fordert Dedecker unter anderen ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Über eine Listenverbindung zwischen Dedecker und dem VB gab es Mutmaßungen, eine solche kam aber vor den Wahlen nicht zustande.

Die belgischen Parlamentswahlen waren zudem erneut ein Spiegel der immer weiter fortschreitenden Entfremdung zwischen niederländischsprachigen Flamen (offiziell 63 Prozent der Bevölkerung) und den französischsprachigen Wallonen (37 Prozent). Mit Ausnahme der Belgischen Union, die ganze 0,13 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, wagt es keine Partei mehr, mit gesamtbelgischem Anspruch anzutreten. Zwar haben viele Parteien weltanschauliche Schwestern im jeweils anderen Landesteil, doch sie treten immer mit getrennten Listen zur Wahl an – und ihre Ziele und Wahlergebnisse unterscheiden sich zunehmend.

Während flämische Spitzenpolitiker insbesondere mit dem Versprechen, Belgien noch weiter zu föderalisieren und zukünftig auch die Zuständigkeit für die Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik in die Hände der Regionen legen zu wollen, in den Wahlkampf zogen, forderten die wallonischen Parteien genau das Gegenteil. Jede weitere Föderalisierung wird von ihnen rigoros abgelehnt. Tief sitzt die Furcht, das reiche Flandern könnte sich selbständig machen und nicht mehr jährlich jene dringend benötigten zehn Milliarden Euro in den wirtschaftlich schwächeren Landesteil überweisen. Dementsprechend gibt es Wallonien erneut eine klare "linke" Ampelmehrheit aus Sozialisten (PS), Liberalen (MR) und Grünen (Ecolo). In Flandern gibt es eine "rechte Mehrheit" aus CD&V/N-VA, VB und Dedecker.

Unter diesen Voraussetzungen ist es leicht nachvollziehbar, wenn belgische Medien befürchten, diesmal könne sich die Regierungsbildung besonders lange hinziehen. Eine stabile, "belgizistische" Mehrheit dürfte sich aber kaum finden lassen. Denn eine "bürgerliche" Koalition aus Christdemokraten und Liberalen hätte zwar mit 81 Mandaten eine numerische Mehrheit – aber die Gräben zwischen den flämischen und wallonischen Schwesterparteien sind größer denn je. Sollte Leterme keine Koalition zustandenbringen, wäre auch eine Neuauflage der bis 2003 regierenden "Ampel" denkbar: Sozialisten, Liberale und Grüne kommen zusammen auf 87 Sitze.

Foto: Jean-Marie Dedecker mit Parteifreundin Ulla Werbrouck: Neben VB und FN nun dritte Rechtspartei

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