Als Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003 seine Ablehnung eines Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin formulierte, kommentierte der Schriftsteller Walter Kempowski in seiner trockenen Art, das sei kein Wunder, denn Schröder sei auch gegen die Wiedervereinigung gewesen. Kempowskis Seitenhieb zielte auf eine vordergründig aufgeklärte, in Wahrheit ahistorische Grundhaltung, die Teil des bundesdeutschen Durchschnittsbewußtseins ist. Sie trug ihre Evidenz in sich selbst, solange die privilegierte Lebenswelt (West-) Deutschlands unangefochten schien. Diesem Bewußtsein mußte die Wiedervereinigung als unzeitgemäße Störung und Rückschritt erscheinen. Wenn aber in ihm schon die DDR nicht vorkam, wie fern müssen ihm heute die ostdeutschen und ostmitteleuropäischen Geschichtsräume liegen! Das Argument, die Deutschen seien sich ein Zentrum gegen Vertreibungen schuldig, weil der Verlust, den es dokumentieren soll, ihre geschichtliche Identität mitkonstituiere, läuft ins Leere, wo Geschichtsbewußtsein auf einige rituelle Formeln geschrumpft und folglich das Bewußtsein eines Verlustes gar nicht vorhanden ist. Aus dieser Sicht bedient die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, ein absonderliches Minderheitenthema, sorgt unnötig für außenpolitische Probleme und leistet dem „Geschichtsrevisionismus“ Vorschub. Die politischen Funktionseliten teilen, repräsentieren und verstärken diese Haltung, jedenfalls in ihrer Mehrheit, und zwar nicht nur bei SPD, Grünen und PDS. Es läßt tief ins Unbewußte der Union blicken, wenn der kultur- und medienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Wolfgang Börnsen, die Ausstellung „Erzwungene Wege“ ausgerechnet damit verteidigt, daß er ihren entscheidenden Mangel als Vorzug herausstreicht: „Das Vertreibungsschicksal der Deutschen nimmt in dieser Konzeption keine Sonderstellung ein.“ Es ist also nur Zufall, daß die drei Vertreter aus Politik beziehungsweise politischem Vorfeld, an deren Beispiel der Widerstand gegen das Vertriebenenzentrum idealtypisch erläutert wird, sämtlich der SPD angehören. Kein Zufall hingegen ist die Wahl der Persönlichkeiten: Alle drei beanspruchen in der Öffentlichkeit ihre Zuständigkeit für das Thema. Der Bundestagsabgeordnete Markus Meckel ist der Repräsentant einer naiven Gesinnungsethik beziehungsweise engagierten Unkenntnis. Diese Haltung ist am weitesten verbreitet. Der Pfarrer aus Brandenburg rechtfertigt seine Anwesenheit im Parlament als Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe, des Gesprächskreises Ostmitteleuropa der SPD-Bundestagsfraktion, der Stiftung deutsch-polnische Zusammenarbeit usw. Er hebt die Kontakte hervor, die er zu DDR-Zeiten zu Oppositionsgruppen in Polen und anderen „Bruderstaaten“ unterhielt. Daraus leitet er seine Kompetenz insbesondere für die deutsch-polnischen Beziehungen ab. Meckels Zugang zur Politik ist kein politischer, sondern ein moralischer. Damit steht er für ein gesamtdeutsches Phänomen. Außenpolitik begreift er nicht als ein System konkurrierender (oder sich überschneidender) Interessen, sondern als ein Feld, auf dem Deutschland sich „dankbar“ zu erweisen habe. Tief beindruckte ihn zum Beispiel die „Großzügigkeit“ Gorbatschows. Als letzter Außenminister der DDR zupfte er seinem Bonner Kollegen Hans-Dietrich Genscher, der atemlos die Wiedervereinigung unter Dach und Fach zu bekommen versuchte, ehe sich das Fenster der Möglichkeiten wieder schloß, beständig am Ärmel und wies ihn darauf hin, daß Deutschland die „legitimen Interessen“ Rußlands nicht vergessen dürfe. Inhaltlich mit dem Latein am Ende Seine Ablehnung des Zentrums formuliert er im moralisierenden Kauderwelsch, das in Deutschland die politisch und historisch genaue Begrifflichkeit ersetzt hat. Von „deutscher Schuld“ ist die Rede, aus der eine „deutsche Verantwortung“ folge, die besage, daß „Ursache“ (Hitler) und „Wirkung“ (Vertreibung) nicht verwechselt werden dürften. Wenn es so einfach wäre! Sogar gestandenen Journalisten fällt es schwer, in Meckels Äußerungen eine Logik wahrzunehmen. Am 10. August 2006 mußte der Moderator des Deutschlandradios während eines Interviews mehrmals nachfragen, was denn an Frau Steinbachs Plänen so verwerflich sei. Meckels endgültige Antwort: „Dieses Zentrum gegen Vertreibungen ist durch die Geschichte der letzten Jahrzehnte an den Bund der Vertriebenen gebunden und das Bild, das er auch im Ausland darüber gegeben hat, und dies ist ein Bild, das in Verruf geraten ist, weshalb es nicht geht, weshalb wir es nicht wollen.“ Also, inhaltlich (sprachlich sowieso) ist Meckel mit seinem Latein am Ende, aber er kann den BdV nicht leiden, und da wäre es ja noch schöner, wenn er an ihn sein politisches Lebensthema verlieren würde. Als 2003 in Polen ein öffentlicher Protest gegen das Zentrum gegen Vertreibungen losbrach, warf Steinbach ihm vor, diesen bestellt zu haben. Mekkel konnte den Vorwurf nicht widerlegen. In der gegenwärtigen, deutschlandfeinlichen Regierung in Warschau, als deren nützlicher Idiot – gewiß zu seinem eigenen Schrecken – er sich erwiesen hat, kann Meckel die Früchte seiner Arbeit besichtigen. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind enorm wichtig. Deutschland kann es sich nicht leisten, darin dem egomanischen, nicht sehr klugen Gesinnungsethiker eine Hauptrolle zu überlassen. Die zweite gegnerische Gruppe bilden die Gesinnungsprotestanten, die die naive Gesinnungsethik zur Quasi-Religion hinaufgesteigert haben. Ihr bekanntester Vertreter ist Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, der seine Ablehnung primär damit begründet, daß das Holocaust-Mahnmal nicht konterkariert oder „relativiert“ werden dürfe. Zwar ist Thierse Katholik, aber erstens ist der Gesinungsprotestantismus längst in das katholische Milieu eingedrungen, und zweitens hat Thierse seine politische Sozialisation innerhalb einer evangelisch geprägten DDR-Opposition erfahren. Gesinnungsprotestanten akzeptieren die von der Aufklärung ausgelöste postchristliche Säkularität (auch der eigenen Kirche) und leben ihre religiösen Energien im innerweltlichen Bekenntnis – zur „Dritten Welt“, zum Frieden, zur „Aussöhnung“ – aus. Außerdem identifizieren sie „Auschwitz“ mit dem „Tod Gottes“ und dem „zweiten Golgatha“. Dieses Konzept findet in dem Netzwerk von Gedenkstätten, das sich in den vergangenen Jahren über Berlin gelegt hat, seinen angemessenen Ausdruck. Sein architektonisch-spirituelles Zentrum ist das Holocaust-Mahnmal, dessen Stellung damit der Funktion der über dem Grab Petri errichteten Peterskirche in Rom ähnelt. (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die ursprüngliche Idee von Lea Rosh, den Backenzahn eines mutmaßlichen jüdischen NS-Opfers in eine Stele einzulassen.) Berlin ist gerade dabei, sich in eine „symbolische Stadt“ zu verwandeln, wie der Mahnmal-Architekt Peter Eisenman mit einem Anflug von Schauder bemerkte. Ein Zentrum gegen Vertreibungen würde sich dieser stringenten Symbolik entgegenstellen. Steinbach mag noch so glaubhaft versichern, daß sie nicht im Traum an ein Konkurrenzunternehmen denkt. Sie kann die Wirkung und Dynamik eines Zentrums, das auch der 16 Millionen deutschen Opfer (darunter zwei Millionen Tote: Verstorbene, Verhungerte, Erfrorene, Erschlagene) gedenkt, genausowenig wie alle anderen vorhersehen, kalkulieren, präventiv eingrenzen. Es liegt im Bereich des Möglichen, daß sich das Zentrum der vom Mahnmal implizierten Opferhierarchisierung widersetzt, daß zwischen beiden ein dialektisches Spannungsfeld entsteht und dadurch eine geschichtliche Kontextualisierung erfolgt, die wiederum für die Gesinnungsprotestanten das definitive Sakrileg darstellt. Für sie bedeutet das Zentrum gegen Vertreibungen die Berührung des Sakrums durch das Profane, und sie reagieren darauf wie die zornigen Moslems auf die dänischen Mohammed-Karikaturen. Die dritte, numerisch kleinste Gruppe der Gegner bilden die politischen Verantwortungsethiker. Als Frontfrau agiert die Regierungsbeauftragte für die deutsch-polnischen Beziehungen, die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan. Die Präsidentin der Viadrina-Universiät in Frankfurt/Oder spielt zweifellos in einer anderen politisch-intellektuellen Liga als Thierse oder gar Meckel. Sie spricht Polnisch, hat über den polnischen Philosophen und Dissidentin Leszek Kolakowski promoviert und bezieht ihre Kenntnisse aus erster Hand. Ihr Verhältnis zur eigenen Partei war lange zerrüttet, weil sie den Anbiederungskurs der SPD an die kommunistischen Machthaber in Osteuropa und die fehlende Solidarität mit der Freiheitsbewegung in Polen offen attackierte. Ihre Eigenständigkeit hat sie als Moderatorin in den deutsch-polnischen Beziehungen beibehalten. Sie kritisiert die Regierung in Warschau, auch deren antideutsche Verbalinjurien, mahnt allerdings die Deutschen, die gegenwärtige Führung nicht mit der polnischen Gesellschaft gleichzusetzen, die ein sehr viel komplexeres und günstigeres Bild abgibt. Das Zentrum gegen Vertreibungen lehnt Schwan ab, weil sie davon eine Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses befürchtet. Das Argument ist ernst zu nehmen, wirft aber die Gegenfrage auf, wie stabil (oder „gut“) ein zwischenstaatliches Verhältnis sein kann, wenn es eine auf Dauer angelegte Selbstverleugnung des einen Partners voraussetzt. Chancen auf einen Bewußtseinswandel Damit ist schließlich ein Zustand permanenter moralischer Erpreßbarkeit gegeben. Außerdem überschätzt Schwan die Bedeutung äußerer Einflüsse auf die innenpolitische Lage eines selbstbewußtsen Landes wie Polen. Wenn sie dann noch die unbestreitbare Feststellung Steinbachs, die Vertreibung der Deutschen sei das „größte Vertreibungsverbrechen der Menschheitsgeschichte“, mit dem moralisierenden Einwand kontert, in dieser Aussage sein kein „Versöhnungsgedanke“ erkennbar, dann wird deutlich, daß die drei Varianten der Ablehnung in reiner Form nicht existieren. Bei der politischen Verantwortungsethikerin Gesine Schwan treten gesinnungsethische – und protestantische Momente hervor, der Gesinnungsprotestant Wolfgang Thierse ist zugleich ein naiver Moralist und verunglückter Politiker, und der simplen Gesinnungsethik von Markus Meckel sind religiöse Elemente und sogar Versuche politischen Denkens beigemischt. Die wichtigste Gemeinsamkeit der drei Genannten aber besteht darin, daß keiner von ihnen in der Causa Zentrum gegen Vertreibungen das letzte Wort verdient. Da die privilegierte Lebenswelt Deutschlands bedroht ist wie noch nie seit den 1950er Jahren – diesmal von innen -, stehen die Chancen auf einen Bewußtseinswandel nicht einmal schlecht.
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