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Im Zwiegespräch mit der Überlieferung

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Als philosophischer Forscher und akademischer Lehrer gehört der am 10. Mai 1936 im sächsischen Etzoldshain geborene Manfred Riedel seit den siebziger Jahren zu den namhaftesten deutschen Philosophen, ohne daß er sich je einer Strömung angeschlossen hätte. Lehrtätigkeiten an die New School for Social Research in New York, enge freundschaftliche Kontakte nach Italien (in Neapel hält er noch immer regelmäßig Vorlesungen, und er ist seit 2005 Mitglied des Istituto Italiano di Scienze Humane in Florenz) dokumentieren dies ebenso wie zahlreiche Preise, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden. Exemplarisch durchziehen Riedels Lebenslauf die Verwerfungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert: Er begann seine Studien der Philosophie und Germanistik in Leipzig bei Ernst Bloch, Hans Mayer und H. A. Korff; 1957 floh er nach Heidelberg. Mit einer vielbeachteten Arbeit über Theorie und Praxis wurde er bei Karl Löwith und Hans-Georg Gadamer promoviert. In Heidelberg kristallisierte sich die Arbeit am geschichtlichen Problemzusammenhang der „Bürgerlichen Gesellschaft“ heraus: Die Thematik reicht von Aristoteles über das Mittelalter in die politische Dimension neuzeitlicher Philosophie bis hin zu Hegel. Aus weitgreifenden einschlägigen Studien, die unter anderem in Artikeln des von Conze und Otto Brunner verantworteten Handbuchs „Geschichtliche Grundbegriffe“ dokumentiert sind, ging Riedels Habilitationsschrift hervor, deren vollständige Publikation derzeit vorbereitet wird. Habilitiert wurde der junge Gelehrte 1968: Ein stärkeres Antidotum als die Erinnerung alteuropäischer Bürgerlichkeit zu der Furie des Verschwindens im Zeitgeist von 1968 läßt sich kaum denken! Mit dem von ihm herausgegebenen zweibändigen Sammelwerk „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ (1972-1974) setzte Riedel Maßstäbe gegen totalitäre und utopische Ideologien; das Sammelwerk erinnerte in vielstimmigen Beiträgen an die große von der Antike über die Renaissance bis zu Hegel führende Tradition praktischer Urteilskraft. In enger Übereinstimmung mit Joachim Ritter, dessen Nachfolger in Münster Riedel beinahe geworden wäre, trug es zur Etablierung praktischer Philosophie im Vollsinn des Wortes an deutschen Universitäten bei. Dem sollte nach 1990 wieder besondere Bedeutung zukommen, als Riedel nach zwei Jahrzehnten Lehrtätigkeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zunächst einem Ruf auf die Friedrich Schiller-Gastprofessur nach Jena und danach (seit 1992) auf einen Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg folgte. Dort veranstaltete er eine Reihe von internationalen Kongressen über Nietzsche, Heidegger, die klassische deutsche Philosophie, er prägte Generationen von Ethiklehrern (auch im berufsbegleitenden Studium) und trug zur Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft in Mitteldeutschland auch gegen Anfeindungen bei. Es bleiben die Bände der bei Böhlau erschienenen Reihe „Collegium hermeneuticum“, zugleich eine Manifestation der deutsch-italienischen Kooperation, die er zwischen Neapel und der Martin-Luther-Universität inaugurierte. Von 1991 bis 2003 war er Präsident der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Die von ihm sorgfältig konzipierten und klug geleiteten Tagungen der Gesellschaft setzen unverrückbare Maßstäbe in der Heidegger-Forschung. Doch bei aller Gelehrsamkeit beließ er es nie bei einer rein akademischen Wirkung. 1991, als die linke intellektuelle Elite vom „DM-Nationalismus“ schwadronierte, schrieb er seine „Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land“: ein gleichermaßen unmittelbares, philosophisches und dichterisches Buch zur Vergegenwärtigung der verlorenen Einheit Deutschlands und ihrer Landschaften, das den Leipziger Freunden der Frühzeit ein unvergeßliches Epitaph setzt. Es konnte nicht ausbleiben, daß Riedel von Berufsintellektuellen der einstigen DDR und der Bundesrepublik gleichermaßen attackiert wurde. 1997 erschien „Nietzsche in Weimar“: ein deutsches Drama, das aus genauester Kenntnis von Nietzsches Denken und Dichten den ideologischen Mißbrauch des vornehmen Geistes und guten Europäers freilegt und eindrucksvoll zeigt, wie sich an Nietzsche entscheidet, was Geist ist. Entstanden ist dieses Buch nicht zuletzt im Konflikt mit den ideologischen „Wendehälsen“, einer einstigen DDR-Kaderintelligenz, die nach 1990 die eigene Vergangenheit umfälschte. Diesem Werk an die Seite traten nur ein Jahr später seine „Freilichtgedanken“ (1998), die in einer Nietzsche kongenialen Sprach- und Denkkraft Nietzsches „Dichterische Welterfahrung“ durchmessen und den Grundgedanken des schönen Lebens, des Maßes für die Moderne vergegenwärtigen. Im Rückblick ergeben sich drei große philosophische Forschungsschwerpunkte Manfred Riedels, alle gewonnen aus der Zwiesprache mit der antiken griechischen Philosophie, dem deutschen Idealismus, sodann mit Nietzsche und Heidegger: Zunächst galt und gilt Riedels Augenmerk dem Ethos der bürgerlichen Gesellschaft. Diese begrenzt die Politik und gibt dadurch, mehr als alle prozeduralen diskursethischen Jakobiner-Weisheiten, einen Begriff des republikanischen Rechtsstaates: der politischen Form, die der Verwirklichung gelingenden Lebens den Rahmen gibt, indem sie sich selbst zurücknimmt. Zum anderen hat er in der Folge seines Lehrers Hans-Georg Gadamer tiefdringende Studien über die Entstehungsgeschichte und Form der Geisteswissenschaften und ihrer Methoden vorgelegt, die in Zeiten einer zunehmenden Ökonomisierung der Wissenschaft zu erinnern bleibt. Zum dritten aber entfaltet Riedel den Umriß einer zweiten Philosophie Alteuropas, die nicht in dem apodiktischen Begründungsideal der ersten Philosophie zwischen Aristoteles und Husserl aufgeht. Riedel hält damit den Denkanarchien der Postmoderne entgegen. In genauer Kenntnis der Quellen geht er zurück auf die Zeugnisse von Mythos, Mysterienreligion und Kunst; auf die Sprache, die, wie er lehrt, neben ihrer aussagenden eine hörende, akroamatische Dimension hat. Er legte wesentliche Einsichten dazu in dem Sammelband „Für eine zweite Philosophie“ (1989) und vor allem in „Hören auf die Sprache“ vor, seinem spekulativen chef d’œuvre. In allen einschlägigen Arbeiten wird offenkundig, daß der hohe Rang von Riedels Denken sich der Verbindung spekulativer Kraft mit einer subtilen Kunst der Interpretation verdankt. Er scheute niemals die Mühe der interpretatorischen Arbeit, eines Dialogs, in dem der Denker zurückzutreten hat hinter die Überlieferung. Manfred Riedel ist kein Philosoph modischer Thesen und Theoreme; in einem subtilen, feinhörigen Zwiegespräch mit den Höhen der geistigen Überlieferung formt sich sein Denken aus. Er erfüllt, wie nur wenige aus seiner Generation, Goethes Maxime, man müsse sich vor zumindest drei Jahrtausenden Rechenschaft ablegen können. In der Folge ging Riedel während der achtziger und neunziger Jahre dem Verhältnis von Philosophie und Dichtung nach: von den frühen Griechen über Hölderlin bis zu Leopardi, Rilke, zuletzt Stefan George. Dem „Geheimen Deutschland“, der geistigen Welt der Brüder Stauffenberg im Licht von Georges Spätwerk, gilt ein Buch, dessen Manuskript Manfred Riedel soeben abschließen konnte und das im Herbst dieses Jahres erscheinen wird: Ein Werk auf höchstem sprachlichen und gedanklichen Niveau, das dank seiner Klarheit und souveränen Stoffbeherrschung allen denkenden Zeitgenossen zugänglich ist. Es verweist auf die klassisch humanistische und christliche Verankerung des Widerstandes gegen Hitler und vermag dem heutigen Leser zu vergegenwärtigen, was es heißt, deutscher Europäer und europäischer Deutscher zu sein. Philosophie darf sich niemals in Polemik verlieren Als akademischer Lehrer vermag es Riedel mit der Faszinationskraft, die aus dem großen Gedanken kommt, seine Hörer zu faszinieren, seine Schüler in beharrlicher Sacharbeit zu prägen und sie gleichwohl eigene Wege gehen zu lassen. Im Umgang mit ihm stellt sich das in Institutionen nur mehr selten erfahrene Glück geistiger Gemeinschaft ein. Er weiß mit Hegel und Heidegger, daß eine Philosophie, die den Namen verdient, Philosophie der eigenen Zeit sein muß, und er weiß zugleich, daß sie sich niemals in politisierender Polemik verlieren darf, daß das Denken nicht Modeströmungen verpflichtet ist. Manfred Riedel ist für ein großes, exemplarisches Werk zu danken, das Bestand haben wird; seinen Schülern und Freunden ist er ein Denker der symphilosophia. Er schreibt nicht nur vom „Geheimen Deutschland“, er gehört ihm im besten Sinne an. Prof. Dr. Harald Seubert ist Dozent für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Foto: Der Markt in Athen, Holzstich nach Josef Buehlmann: Verwirklichung gelingenden Lebens Foto: Manfred Riedel

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