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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Wanderprediger des Möglichen

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Nicht ganz so laut und enthusiastisch wie die Spanier ihren Salvador Dalí (hundertster Geburtstag im kommenden Mai) und nicht ganz so gründlich und verbissen wie die Deutschen ihren Immanuel Kant (zweihundertster Todestag) feiern die Italiener heuer ihren Battista „Leon“ („Der Löwe“) Alberti, der vor sechshundert Jahren, am 18. Februar 1404, in Genua das Licht der Welt erblickte. Alberti war der erste jener „Universalmenschen“, „Kraftkerle“, „Alleskönner“ (auch „Großsprecher“), die so charakteristisch sind für die Renaissance und als deren großartigste Verkörperung ein anderer Italiener gilt: der fünfzig Jahre jüngere Leonardo da Vinci. Alberti ist nicht so berühmt geworden wie Leonardo, stand ihm aber an Talent und Vielseitigkeit wohl wenig nach. Sein Unglück ist, daß der aus Deutschland herüberkommende Buchdruck zu seiner Zeit in Italien gerade erst Fuß faßte und die von diesem Buchdruck mächtig beförderte Archivierungs- und Erinnerungskunst Alberti knapp verpaßte. Von Alberti ist viel weniger verläßlich Datierbares erhalten als von Leonardo. Das Bild, das wir von ihm haben, gleicht in mancher Hinsicht einem riesigen Schatten, den das Kommende in die Vergangenheit zurückwirft. Alberti selbst freilich hat aus seinem Leben streckenweise ein Geheimnis gemacht, tauchte oft plötzlich ab und war dann für längere Zeit aus den Augen der Zeitgenossen verschwunden, brachte fiktive Lebensläufe von sich unter die Leute, schrieb in Geheimschrift. Jeder Geheimdienstler kennt Alberti heute noch als den Erfinder der sogenannten „polyalphabetischen Verschlüsselung“. Bis zu ihm hin hatte man durch die Jahrtausende immer nur ein einziges Spezial-Alphabet nebst Code benutzt, um Geheimdokumente herzustellen. Alberti nun entwickelte Codes, die auf zwei und mehr Alphabeten basierten, welche man beim Verschlüsseln abwechselnd einzusetzen hatte. Eine gloriose Idee. Außer als Geheimdienstler war Alberti noch aktiv als Architekt, Maler, Bildhauer, Mathematiker, Philosoph, Kunsttheoretiker, Dichter, Alchemist, Festungsingenieur, Büchsenmeister, Feldmesser, Arzt, Anatom, Jurist. Faktisch in allen diesen Disziplinen hat er interessante Spuren hinterlassen, in vielen bahnbrechend gewirkt, vor allem in Architektur und Kunsttheorie. In Florenz erbaute er den Palazzo Ruccellai und die Fassade von Santa Maria Novella, in Mantua entstanden nach seinen Anweisungen San Sebastiano und Sant‘ Andrea. Alberti war der eigentliche Begründer des an der Antike orientierten neuen Baustils. Mit Donatello und mit Brunelleschi, dem florentinischen Dombaumeister, war er befreundet, seine Überlegungen und Entdeckungen lieferten den Kanon, an dem sich die bildende Kunst von nun an orientierte. Alberti war das große Scharnier zwischen handwerklicher Bauhüttenwelt und abstrakt-gelehrter Universitätswelt, ohne deren Synthese es nie zu jener Entfesselung schöpferischer Kräfte hätte kommen können, die wir seitdem mit dem Namen „Renaissance“ verbinden. Seine einschlägigen Schriften, „Elementi di pittura“, „De Statua“ und andere, legten überhaupt erst den Grund für die volle Eröffnung des neuen künstlerischen Zeitalters, für die Ablösung der alten „maniera bizantina“, für die Einführung der Perspektive in die Gemälde, für die Ersetzung des Goldgrundes durch farbenreiche realistische Hintergründe. Aber man hat es Alberti merkwürdigerweise kaum gedankt. Schon Vasari in seiner Kunstgeschichte hundert Jahre später behandelt ihn eher beiläufig und herablassend, und auch noch bei Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert ist etwas von dieser Herablassung zu spüren. Das an die Renaissance anschließende Zeitalter des scharf kalkulierenden Rationalismus hat eben gründlich dafür gesorgt, daß Gestalten wie „der Löwe von Genua“ für lange Zeit ins sanft belächelte Abseits der Erinnerung gerieten. „Viel Begeisterung und nichts dahinter“, lautete das Verdikt, und in der Tat wäre ja zu konstatieren, daß in der Zeit etwa zwischen 1450 und 1600 wenig realer technischer Fortschritt passierte, entschieden weniger als im Mittelalter, dessen technischer Schlußpunkt und Paukenschlag bekanntlich die epochale Erfindung des Buchdrucks und damit die Eröffnung der „Gutenberg-Galaxie“ war. Keine der vielen himmelstürmenden Renaissance-Ideen wurde realisiert, und das betrifft nicht nur Alberti, sondern auch Leonardo. Es gab kaum technische Innovationen. In den Annalen der Technikgeschichte aus jener Zeit tauchen nur der Schraubstock in Nürnberg, die Taschenuhr von Peter Henlein daselbst und der Strumpfwirkstuhl in England auf. Dagegen halte man die gewaltige Anzahl von künstlerischen Genies, die in dieser Epoche hervortraten, die Raffael, Botticelli, Correg­gio, Tizian, Michelangelo, Rabelais, Cervantes, Shakespeare, Dü­rer, Holbein, Grünewald, Riemenschneider! Die Renaissance, so zeigt sich, war eine künstlerisch, nicht technisch ergiebige Periode. Damalige Technik verströmte sich in unendlichem Projektemachen, im Möglichkeiten-Erkennen, in genialem Aufreißen, allgemeinem Wegangeben. Und dem entspricht, daß parallel zu den genannten Originalgenies eine gewaltige Menge bloßer Abenteurer und Wichtigtuer unterwegs waren, ja, das Marktschreierische, An­geberische, Auftrumpfende war so sehr ein allgemeiner Zug der Zeit, daß auch die wahren Genies selbst davon nicht unberührt blieben, vor allem eben Alberti (dem die nachgeborenen Kommentatoren freilich wegen seiner Geheimnistuerei sehr viel weniger nachsahen als dem an sich viel lauteren, aber dafür stets „populären“ Leonardo). Alberti und seinesgleichen waren Wanderprediger der Möglichkeiten, Hasardeure des bloßen Wollens, dessen Lorbeeren, nach Hegel, bekanntlich nie gegrünt haben. Bodenlosigkeit, Unsicherheit lauerte hinter jeder ihrer Gebärden, und dazu bestand ja auch alle Ursache. Nicht nur hatte man der Kirche als Hort der Geborgenheit durch die Lehre von der doppel­ten Wahrheit erfolgreich den Laufpaß gegeben, auch in anderen Dimensionen sah man sich von Grund auf auf sich selbst gestellt. Die großen geographischen Entdeckungen erweiterten die Welt um ein Vielfaches, und da man zunächst nur ungefähre Grenzen abstecken konnte, hinter denen sich immer neue eminente Abenteuer bereitzuhalten schienen, kehrte man selber kräftig den Abenteurer heraus, den Entdecker in Richtung Zeit, der seinen gleichberechtigten Platz neben dem Entdecker in Richtung Raum beanspruchte. Aus dem Goldland heim in die Kirche In der Familie unseres nördlichen Renaissance-Menschen Ulrich von Hutten spiegelte sich die Konstellation in frappanter Genauigkeit wider. Ulrich selbst war der „innere Entdecker“, der dem Geist neue, wahrhaft goldene Zeitdimensionen zu erschließen vorgab. Sein Neffe Philipp hingegen wurde „Entdec­ker des Raums“, Weltreisender, Conquistador, der sich aufmachte, das „Goldland“, El Dorado, zu suchen. Beide waren Abenteurer. Der eine, Ulrich, starb jung an der Syphilis, der andere, Philipp, wurde von spanischen Landsknechten im fernen Paraguay hinterrücks erschlagen. Leon Battista Albertis Ende war weniger tragisch und spektakulär. Er verschied, gutbetagt und versehen mit den heiligen Sakramenten, am 15. April 1472 in Rom in den Armen seines Freundes Leonardo Dato. Dieser war der Geheimsekretär des Papstes. Bild: Leon Battista Alberti (1404-1472): Geheimnisvolles Leben

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