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Jugend, Opfer und das Nationale

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Über aufgeweichte Ackerflächen stürmten die Soldaten deutscher Reserveregimenter am 10. November 1914 im Frontbogen vor der flandrischen Stadt Ypern gegen kriegserprobte britische und französische Truppen. Diese überschütteten die Deutschen aus gut ausgebauten Stellungen mit mörderischem Feuer und verursachten unter den Stürmenden schwerste Verluste. Im Tagesbericht der Obersten Heeresleitung hieß es darüber: „Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie.“ Alle deutschen Tageszeitungen brachten die Meldung über die „jungen Regimenter“ von Langemarck auf der Titelseite. Schon bald entstand daraus der Mythos vom Opfergang der studentischen deutschen Jugend vor dem kleinen flandrischen Ort. Militärisch hatte die Schlacht wenig Auswirkungen Der Angriff gehört in den Kontext deutscher Bemühungen, den Frontbogen bei Ypern zu begradigen und Ypern einzunehmen. Zu diesem Zweck wurden frisch aufgestellte Reservekorps herangezogen. Deren Mannschaften setzten sich aus ungedienten Kriegsfreiwilligen, aus eingezogenen Rekruten und aus älteren Reserveoffizieren zusammen, deren Dienstzeit schon lange zurücklag und denen Erfahrung fehlte mit militärischen Phänomenen wie der modernen Artillerie oder gar dem Einsatz von Maschinengewehren. 61 Prozent der Soldaten dieser Korps hatten noch nicht gedient, unter ihnen befand sich ein erheblicher Teil an höheren Schülern und Studenten, die in mehreren Regimentern dominierten. Das verlustreiche Stürmen war im Hinblick auf Geländegewinn völlig unbedeutend. Weder Langemarck noch andere Orte in der Nähe und schon gar nicht Ypern konnten erobert werden. Aber die Briten waren beeindruckt. In deren Tagesbericht vom 12. November 1914 stand: „An diesen Kämpfen haben zuerst die neugebildeten, größtenteils aus Kriegsfreiwilligen bestehenden Regimenter teilgenommen … Ungeachtet des Mangels an Offizieren stellten sich diese Knaben unseren Kanonen entgegen, marschierten unbeirrt gegen die Läufe unserer Gewehre und fanden furchtlos scharenweise den Tod. Das ist die Frucht eines Jahrhunderts nationaler Disziplin. Die Kraft der preußischen Kriegsmaschinerie schweißt sie zusammen, damit sie sich für die nationale Existenz einsetzen, und ihr Vorgehen beweist, daß für sie ‚Deutschland über alles‘ kein leerer Schall ist.“ Der Mythos von Langemarck, in dem aus den „jungen Regimentern“ bald schon „studentische Regimenter“ wurden, wirkte stark in die nächsten Jahrzehnte hinein. Die deutsche Jugendbewegung, die deutsche Studentenschaft, die Universitäten und das patriotisch gesinnte Bildungsbürgertum tradierten in der Weimarer Republik den Nachruhm der Gefallenen von Langemarck. In konfessioneller Hinsicht gab es keine Unterschiede; auch unter Katholiken (die noch in der Zeit des Kulturkampfes als national unzuverlässig hingestellt worden waren) besaß „Langemarck“ einen hohen emotionalen Wert. So war Hans Filbinger, der spätere CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Führer im katholischen Schülerbund Neudeutschland (ND) und gehörte dem ND-Gau Langemarck an. Im Mai 1931 trennte sich dieser Gau vom Altbadengau ab. Im „Gaugesetz“ der neuen Einheit hieß es: „Der Gau Langemarck wählte sich seinen Namen zur Erinnerung an die deutsche Jugend, die am 11. November 1914 in Flandern ihr Leben fürs Vaterland einsetzte.“ In diesem Satz sind die drei Motive zu erkennen, die den Langemarck-Mythos inhaltlich ausmachen: Jugend, Opfer und das Nationale. Im Dritten Reich wurde dies ausgeweitet auf „Frontsozialismus“ und „Volksgemeinschaft“. In den achtziger Jahren setzte dann eine Entmythologisierung ein, bei der jedes Wort des erwähnten deutschen Tagesberichts zerpflückt und als unwahr erwiesen werden sollte – mit dem Ziel, die völlige Sinnlosigkeit des Sterbens von Langemarck darzutun, was bisher durch Manipulation und Verschleierung weithin verhindert worden sei. Noch relativ gemäßigt gab sich die 1956 geborene Historikerin Gudrun Fiedler. Aus einem Gespräch mit einem Überlebenden der Schlacht, dem ehemaligen Wandervogel Hans Koch (Jahrgang 1897), hielt sie fest, Koch habe die Ereignisse als „Massenmord an den Kriegsfreiwilligen“ angesehen. Auch hätten die deutschen Soldaten nicht singend angegriffen; das Artilleriefeuer sei viel zu laut gewesen und sie selbst durch das Laufen zu ausgepumpt. In seinem sehr lesenswerten Beitrag zu dem dreibändigen Werk „Deutsche Erinnerungsorte“ (hrsg. v. Etienne François und Hagen Schulze, 2000/2001) rückte der Düsseldorfer Militärhistoriker Gerd Krumeich die Verstiegenheiten mancher Kritiker des Langemarck-Mythos zurecht. Er sah den Langemarck-Mythos im Kontext der deutschen Traumatisierung durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg: „Im Rahmen der Kriegserinnerung, der Traumabewältigung und kritischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg hat Langemarck in Deutschland eine besondere Rolle gespielt.“ Nicht übersehen werden darf, daß dieser Mythos ein letztes heroisches Gegenbild zum „Maschinenkrieg“ war, der seither den Kriegsalltag bestimmte. Spezifische NS-Ideologie war im Langemarck-Mythos zu keiner Zeit dominant: „Antisemitismus, Anti-Marxismus, Rassenideologie, Blut- und Boden-Ideologie oder neue Raumordnung sind in dieses Ereignis nicht einpflanzbar gewesen.“ Langemarck behielt auch im Dritten Reich seinen „Charakter als Symbol für das heldische Jugendopfer und den Geist der Freiwilligkeit und der Hingabe für Deutschland“. Der deutsche Soldatenfriedhof von Langemarck (flämische Schreibweise seit langem schon: Langemark) dokumentiert diese Interpretation bis heute. 1924 weihte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den ganz schlicht gehaltenen Soldatenfriedhof Langemarck ein. Von 1930 bis 1932 baute der Volksbund, unterstützt durch die „Langemarck-Spende der deutschen Studentenschaft“, den Friedhof zu einer Hain-Anlage aus. 1940, nach dem Westfeldzug, stand der Arbeiterdichter Karl Bröger, der im Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft hatte, sinnend an den Gräbern von Langemarck, in Gedanken bei den Gefallenen von damals: „Hier sind zur letzten Ruhe sie gebracht,/ und mögen ihre Leiber auch vermodern:/ Nie ihr Gedächtnis! …“ Langemarck sei nicht mehr als Erinnerungsort geeignet Heute verstehen wir das Vermächtnis der Gefallenen von Langemarck sicher im Sinne von „Nie wieder Krieg!“ Diese Mahnung steht in niederländischer Sprache auf dem gewaltigen Gedächtnismonument zu lesen, das die flämisch-nationale Bewegung zum Gedächtnis der gefallenen flämischen Soldaten von der Ijzer in Dixmuide errichtet hat. Unausgesprochen schwingt diese Mahnung auch in einem bewegenden Lied mit, das im Front-Wandervogel entstanden ist und bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Bünden der deutschen Jugendbewegung verbreitet war: „Der Tod reit’t auf einem kohlschwarzen Rappen Flandern in Not, in Flandern reitet der Tod!“ Zu einer Sinndeutung, die darüber hinausführt, sagte der Schriftsteller Gerhard Nebel in einem WDR-Rundfunkessay vom 12. November 1966 Beachtenswertes. Nebel, in seinen jungen Jahren entschiedener Sozialist, später langjähriger Gesprächs- und Briefpartner Ernst Jüngers, betonte: „Ich kann den doch weithin freiwilligen Tod dieser Jugend nicht begreifen, aber ich weigere mich auch, ihn für gleichgültig zu halten oder ihn gar als Verführtheit zu verhöhnen.“ Er gab zu bedenken, „daß eine geschichtliche Gestalt nur so lange dauert, als Menschen bereit sind, für sie ihr Leben hinzugeben“. Krumeich hingegen hält in seiner Stellungnahme von 2001 Langemarck nicht mehr für geeignet, ein deutscher „Erinnerungsort“ (im Sinne der Begriffsbildung des Franzosen Pierre Nora) zu sein. Seit 1945 könne Langemarck nicht Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität sein. Krumeich begründet dies mit Hinweis auf die „Nazi-Verbrechen“ und die „Zerstörung Deutschlands“. Ob dieser Ansatz allerdings eine patriotische Position sein kann, dürfte sehr fraglich sein. Foto: Kranzniederlegung der Reichswehr am Langemarck-Ehrenmal des Stahlhelm-Studentenrings, September 1933 in Naumburg: Letztes heroisches Gegenbild zum „Maschinenkrieg“

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