Bisher wurde die Slowakei kaum als eigenständiger Staat wahrgenommen. Nicht nur der US-Präsident, sondern ein Großteil der Menschen im Westen kann das 5,4-Millionen-Land auf einer Landkarte oftmals nicht finden oder verwechselt es mit Slowenien. Zu wissen, daß die Hauptstadt Bratislava bis 1918 als Preßburg eine hauptsächlich von Deutschen besiedelte Stadt im Königreich Ungarn war, ist nicht immer karrierefördernd. Daß die Benes-Dekrete nicht nur in der Tschechei, sondern auch in der Slowakei die Vertreibung der meisten Deutschen besiegelten, ist für viele längst „Geschichte“. Daß die Ungarn die Hauptstadt Pozsony nennen und ein Zehntel der Slowaken im ehemaligen Oberungarn keine Slawen, sondern Magyaren sind, weiß erst recht kaum ein „Westler“. Die Partei der Ungarischen Koalition (SMK) sitzt aber seit 1998 in der Regierungskoalition – Minderheitenprobleme schien es also nicht mehr zu geben. Um so erstaunter hörte man von den rassisch gefärbten Unruhen aus dem Herzen Europas, die am 24. Februar zu handfesten Gewaltakten eskalierten. Paßt das zusammen mit einem Staat, der am 1. Mai Vollmitglied der EU wird? Als das slowakische Volk 1992 per Volksentscheid die 1918 begründete und 1945 erneuerte Zwangsehe mit den Tschechen verließ, unkten viele, Prag sei dankbar für diesen Schritt, habe es doch dadurch einen rückständigen Landesteil seinem Schicksal überlassen können. In der Tat waren die Probleme ungeheuerlich. Aber Schritt für Schritt konnte sich der Staat – bis 1998 unter dem linksnationalen Premier Vladimír Meciar international isoliert und von Nato- wie EU-Beitritt ausgeschlossen – freischwimmen, so daß man inzwischen von einem „Wirtschaftswunder“ redet. Preßburg, immer eingekeilt und der Bedeutung beraubt durch die Nähe Wiens und Budapests, zählt inzwischen zu den „Boomtowns“ Europas. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch radikale Reformen, deren vorläufiger Höhepunkt ein neues Steuersystem ist: Am 1. Januar führte die bürgerliche Vier-Parteien-Regierung einen einheitlichen Steuersatz von 19 Prozent ein. Auch Firmengewinne und sonstiges Vermögen werden einheitlich mit 19 Prozent besteuert. Die Mehrwertsteuer beträgt ebenfalls 19 Prozent. Besonders der 43jährige – an der London School of Economics geschulte – Finanzminister Ivan Miklos, Vizepremier und wie sein Chef Mitglied der christliberalen SDKÚ, hatte sich für diese Steuerpolitik eingesetzt. Mit dem gleichen Elan wurde das Sozial-, Bildungs- und Rentensystem im vergangenen Jahr EU- und Euro-tauglich gemacht. Das Renteneintrittsalter wurde auf 62 Jahre erhöht, die Bezugskriterien verschärft, die Finanzierung der Schulen auf die Kommunen abgewälzt. Kurz: Es wurden all jene Rezepte brav umgesetzt, von denen neoliberale Universitätsprofessoren in Deutschland oder Frankreich nur träumen. Nicht nur der VW-Konzern, der schon seit 1991 präsent ist, immer mehr ausländische Firmen entdecken die Slowakei als Produktionsstandort. Allein im Zeitraum Mitte Dezember 2003 bis Mitte Februar 2004 haben zwei Dutzend ihre Expansionsabsichten in der Slowakei bekanntgegeben. Selbst der südkoreanische Automobilbauer Hyundai/Kia hat sich für seinen neuen EU-Standort die Nordslowakei gewählt. Ein Großteil der Arbeiter ist gut qualifiziert – doch das Durchschnittseinkommen beträgt nur 250 Euro. Im Osten des Landes erreicht dieser Durchschnitt jedoch nur die Hälfte. Ausgerechnet in diese „Wir sind endlich wer“-Stimmung platzten die häßlichen Bilder von plündernden, aufgebrachten Menschen, die man verschämt pauschal als „Roma“ bezeichnet. Früher nannte man das Volk, das aus mehreren Untergruppen mit jeweils eigenständigen Dialekten besteht – Roma und Sinti sind jeweils eigenständige Gruppen – „Zigeuner“. Inzwischen ist diese jahrhundertealte Bezeichnung diskriminierend. Das ist so, als wenn man nicht mehr „Deutsche“ sagen dürfte, sondern nur noch „Bayern“, wenn man von „den Deutschen“ spricht. Diese Wortklauberei ist bezeichnend für die Situation der „Roma“, denn sie zeigt vor allem eines: Man redet viel über sie, ohne mit ihnen zu reden. Der slowakische Geheimdienst SIS hatte schon vor Wochen gewarnt, daß sich im Osten des Landes etwas zusammenbraut. In dieser geladenen Atmosphäre wirkte die neue Sozialgesetzgebung wie ein Zündfunke: „Roma“ stürmten Lebensmittelläden in Trebisov, Revúca und anderen ostslowakischen Städten, plünderten sie und griffen die Sicherheitskräfte mit Flaschen, Knüppeln und Steinen an. Ministerpräsident Mikulás Dzurinda ließ sich von der Gewalt nicht beeindrucken, sondern mobilisierte umgehend 20.000 Polizisten sowie sogar 1.000 Soldaten und schickte rund 1.500 Sicherheitskräfte direkt in die Krisenregion um Kaschau (Kosice). Etwa hundert Plünderer wurden verhaftet. Daraufhin ebbten die Proteste vorerst ab. Tatsächlich wurden die finanziellen Zuwendungen um die Hälfte gestutzt. Ab März erhalten Einzelpersonen nur noch 1.450 Kronen (35 Euro) statt bisher 2.900 Kronen, Familien höchstens 4.210 Kronen. Bisher gab es für jedes Kind bis zu 1.600 Kronen extra. Da die Sozialhilfe meist die einzige Einnahmequelle für die slowakischen Zigeuner ist, sieht die Finanzstrategie denkbar einfach aus: viele Kinder, viel Geld. Offiziell wird die Roma-Population mit 89.000 angegeben, nach seriösen Schätzungen gehören aber inzwischen fast zehn Prozent (über eine halbe Million) dieser Minderheit an, einige Fachleute gehen sogar von einer Million slowakischer Roma aus. Niemand weiß das genau, weil ein weiterer – gern übersehener – Faktor die Zählung erschwert: Die meisten „Zigeuner“ bezeichnen sich nicht als „Roma“. Sie sehen sich als Ungarn, Rumänen oder Slowaken. Allerdings zeichnet sich eine Trendwende ab – besonders bei den Jüngeren. Denn mit Hilfe des Westens, allen voran die amerikanische Soros-Stiftung, wurde in den vergangenen Jahren viel Geld in das „Roma-Erwachen“ in Mittel- und Osteuropa investiert. So gibt es inzwischen zahlreiche Zeitschriften, im ungarischen Fünfkirchen (Pécs) sogar ein Gandhi-Gymnasium exklusiv für Zigeuner. In Budapest wurde der Sender „Rádió C“ eingerichtet – „C“ steht übrigens für „Cigány“ (Zigeuner), denn viele ungarische Cigány sehen den Namen „Roma“ als Beleidigung: das seien die „rückständigen“ rumänischen Zigeuner. Die Opposition in Preßburg versuchte umgehend politisches Kapital aus den Zigeuner-Unruhen zu schmieden. Der für seine markigen Sprüche bekannte Ján Slota – Führer der rechtsnationalen SNP – forderte ein noch härteres Durchgreifen des Staates und die Ausrufung des Ausnahmezustands. Staatspräsident Rudolf Schuster, Karpathen-Deutscher und Ex-Kommunist, machte Dzurinda für die Ausschreitungen verantwortlich, ebenso Ex-Premier Meciar. Beide wollen am 3. April bei den Präsidentschaftswahlen gewinnen. Angesichts der Plünderungen schulmeistert man aus dem Ausland, „die Slowaken“ müßten „mehr für die Roma tun“. Auch Brüssel sei gefordert, sonst wandere das Problem nach der Erweiterung in die „alte“ EU. Mehr Bildung, mehr Integration, mehr Hilfen und vor allem mehr Toleranz von den Nicht-Zigeunern – so lautet die Zauberformel in den üblichen Kommentaren selbst konservativer Medien. Überträgt man die slowakischen Probleme auf Deutschland, dann lebten hier etwa acht Millionen Zigeuner – dabei ist das reiche Deutschland nicht mal in der Lage, die gerade mal 2,5 Millionen (weitaus besser gebildeten) Türken zu integrieren. Alle bisherigen Lösungsansätze greifen jedoch hoffnungslos zu kurz. Denn erst wenn man alle Aspekte der „Roma-Frage“ sachlich erörtern kann, ohne Medienhatz oder Gerichtsverfahren zu riskieren, kann man überhaupt erfassen, welch gewaltiges Problem mit der EU-Erweiterung in die Gemeinschaft hineinkommt. Foto: Polizeieinsatz gegen plündernde Zigeuner in Trebisov: Roma-Frage wird bald auch die EU betreffen