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Marc Jongen, ESN Fraktion
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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Die soziale Frage bleibt weiter ungelöst

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Am 7. Dezember wählt Rußland eine neue Duma. So hat es der russische Präsident Wladimir Putin mit einem Erlaß verfügt. Es sind die vierten Wahlen, seitdem am 12. Dezember 1993 – zugleich mit der Annahme der neuen russischen Verfassung unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin – erstmals seit 1917 wieder ein russisches Parlament tatsächlich gewählt wurde. Als Teilnehmer der Wahlen der unteren Kammer wurden 43 Parteien registriert, von denen kaum die Hälfte als chancenreich gilt. Kleinere Parteien haben es nach dem neuen Parteiengesetz schwerer, nachdem das seit 1995 geltende und seither nur geringfügig geänderte Wahlgesetz nach deutschem Vorbild die Fünf-Prozent-Klausel enthält. Die aussichtsreichsten Parteien sind jene acht, die in der jetzigen Duma vertreten sind, doch auch einige von ihnen müssen fürchten, nicht mehr über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Hierzu zählt die Union der rechten Kräfte (SPS), eine Partei der russischen Unternehmer unter dem 44jährigen Ex-Premier Boris Nemzow, die nach jüngsten Umfragen nur auf zwei Prozent käme. Doch nachdem der eigentliche SPS-Gründer, der Chef des russischen Stromkonzerns Vereinigte Energiesysteme Rußlands (EES Rossij), Anatolij Tschubajs, sich – offenbar mit Befürwortung Putins – bereiterklärte, auf der SPS-Liste zu kandidieren, könnte der Sprung in die Duma wieder gelingen. Fünf-Prozent-Klausel gegen neue und kleine Parteien Denn Tschubajs gilt zwar noch immer wegen seiner Rolle bei der Privatisierung der Staatsindustrie Anfang der neunziger Jahre als unbeliebt. Doch ebenso bekannt ist seine Durchschlagskraft bei Wahlkampagnen: 1996 brachte er Jelzin von einer aussichtslosen Position auf den Platz des Siegers, 1999 brachte er seine Partei auf fast neun Prozent. Hinzu kommt, daß es Tschubajs an Geld für den Wahlkampf nicht mangelt. Ähnlich geht es den Liberalen Demokraten (LDPR) von Wladimir Schirinowskij. Die Partei des 57jährigen „Populisten“ liegt in Umfragen bei knapp sechs Prozent. Schirinowskij machte dem Führer der Partei der Arbeit Rußlands, Viktor Anpilow, das Angebot, drei Kandidaten auf die LDPR-Liste zu setzen. Eine Neugründung ist die Volkspartei, die allerdings auch schon in der jetzigen Duma vertreten ist: Sie entstand dadurch, daß 53 Abgeordnete der Partei der Einheit aus dieser Fraktion sich verabschiedeten und nun – offenbar mit Billigung Putins – als selbständige Partei auftreten. Die Volkspartei wirbt für eine „radikale Reform der geltenden Verfassung“, denn in der geltenden seien nur die Rechte der Bürger, nicht aber deren Pflichten festgeschrieben. Auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei von Ex-Präsident Michail Gorbatschow hat sich registrieren lassen. Doch in den wenigen Orten, in denen sie existiert, kann sie ihre Versammlungen in einer Telefonzelle durchführen, wie manche meinen. Stärkste Partei werden laut Umfragen die Kommunisten mit gut 20 Prozent. Die Partei einheitliches Rußland, die Putin nahesteht, liegt mit 19 Prozent dahinter. Dritte Kraft könnte die Partei Jabloko von Grigorij Jawlinski werden, der sich bei seinen Vorträgen im Westen gern als „demokratische Opposition“ präsentiert, doch politisch nichts Vorzeigbares erreicht hat. Diese Aussichten beunruhigen den Kreml – und so ist wohl noch mit manchem zu rechnen, damit Putins Ziel einer absoluten Mehrheit in der Duma zu seinen Gunsten erreicht wird. Nicht zuletzt hängt dies auch von der Lage im Land und der Stellung Rußlands in der Welt ab – bzw. davon, wie sich diese Faktoren im Bewußtsein der Wähler widerspiegeln. Seit den letzten Dumawahlen 1999 und Putins Amtsantritt ein Jahr später hat sich viel geändert. Doch noch immer gibt es im Land „die Familie des Boris Jelzin“. Eingeweihte sprechen sogar heimlich in kleinen Diskussionszirkeln von einer „Doppelherrschaft“: Wir haben einen Präsidenten und einen Regenten, bei dem Putin jede Woche (wenn er in Rußland ist) einmal Bericht erstattet. Tatsächlich sucht Putin seinen Amtsvorgänger Jelzin regelmäßig auf. Doch inzwischen hat Putin es verstanden, in fast alle Machtpositionen Leute seines Schlages zu plazieren: Geheimdienstler, Militärs, Vertraute aus St. Petersburg. 77 Prozent der Führungspositionen sind – nach der Soziologin Olga Kryschtanowskaja von der Russischen Akademie der Wissenschaften – mit Angehörigen der alten „Nomenklatura“ besetzt. Der Schriftsteller, Historiker und Philosoph Wladimir Iljutschenko, der von einer „gigantischen Infiltration durch Militär und Geheimdienst“ spricht, befürchtete in der Nowaja Gaseta sogar einen „geheimen Staatstreich“. Putin ist davon überzeugt, daß die früheren KGB-Angehörigen die Elite sind, deren Bestimmung es ist, Rußland zu retten und wieder zu alter Größe zu verhelfen. Noch immer wählt er für die Besetzung der wichtigsten Posten im Staat Personen nach diesen Kriterien aus: Sie müssen zuverlässig sein, dem Land – und das heißt schon lange: ihm – ergeben sein. Natürlich sollen sie auch fachlich etwas verstehen, doch dies ist nicht das ausschlaggebende Kriterium. Vielleicht liegt hier der Grund, daß sich in der „Mannschaft Putin“ kaum Angehörige der Gruppe befinden, die man früher als „Intelligenz“ bezeichnete. Für sich in Anspruch nehmen kann Putin, daß nach dem „Rubelcrash“ des Jahres 1998 die russische Wirtschaft wieder Tritt faßte, auch wenn es übertrieben ist, von einem „Boom“ zu sprechen, wie westliche Medien meinen. Die russische Wirtschaft lebt noch immer von den hohen Einnahmen aus dem Erdöl- und Gasverkauf und aus Rüstungsexporten. Auch das neue Steuergesetz mit seinen vernünftigeren Abgaben scheint zu funktionieren und brachte höhere Staatseinnahmen. Renten wurden erhöht, wenn sie auch keinen Vergleich mit westlichen Verhältnissen zulassen. Die Gehälter und Löhne werden pünktlich gezahlt, auch wenn es in letzter Zeit – vor allem außerhalb Moskaus – wieder zu Verspätungen kam. Doch das Lebensniveau der Mehrheit der Bevölkerung ist so niedrig, daß man von einer „ungelösten sozialen Frage“ sprechen kann – was vor allem denjenigen russischen Bürgern bewußt wird, die es schaffen, ihren Urlaub im Ausland zu verbringen. Das Bodengesetz, das mit seinen Folgeregelungen den Verkauf von Grundstücken zuläßt, ist auch gegen den scharfen Widerstand der Kommunisten in Kraft getreten. Eine „Gerichtsreform“, die zwar den hochtrabenden Namen nicht verdient, aber immerhin eine Verbesserung des Gerichtssystems brachte, ist abgeschlossen. Eine Verwaltungs- und Bankenreform stehen noch aus, doch sie werden in Angriff genommen. Viele Probleme bleiben oder sind überhaupt offen – wie die lange fällige Militärreform. Doch das Hauptproblem bleibt die Anhebung des niedrigen Lebensniveaus des Gros der 150 Millionen Bürger der Russischen Föderation. In letzter Zeit ist viel davon die Rede, Putin führe jetzt einen „Kampf gegen die Oligarchen“ – jene Großindustrielle Rußlands, die sich im Rahmen der Privatisierung der sowjetischen Staatsbetriebe immenses Eigentum aneignen konnten (auf welchem Wege immer). Dazu gehören Leute wie der 40jährige Michail Chodorkowskij, Chef des größten russischen Erdölkonzerns Yukos, der nach einer inzwischen vom russischen Kartellamt genehmigten Fusion mit dem Konzern Sibneft als Yukossibneft der viertgrößte Erdölkonzern der Welt sein wird. Natürlich fürchtet Putin, daß solche internationalen Konzerne vom Kreml nicht mehr zu kontrollieren sind und vor allem, daß sie in die Innenpolitik des Landes eingreifen. Als Chodorkowskij ankündigte, er werde im Wahlkampf bestimmte Parteien finanziell unterstützen, erschienen auch Vertreter der Partei der Einheit bei ihm und verlangten ihren Anteil. Doch Chodorkowskij lehnte ab. „Sie sind also gegen Putin?“ Er wiegelte ab: „Nein – aber Ihre Partei ist nicht meine Ideologie“. Sicher stört so Chodorkowskij Putins Kreise. Ob aber deswegen die Inhaftierung seines engen Mitarbeiters Platon Lebedew schon als Teil eines „Kampfes gegen die Oligarchen“ anzusehen ist, bleibt zumindest offen. Die angestrebte Steigerung des russischen Bruttosozialproduktes um jährlich zehn Prozent wird Putin so nicht erreichen. Doch aus der Politik raushalten will Putin die „acht Großen“ (reichsten Unternehmer Rußlands), die heute 54 der 64 größten Konzerne des Landes beherrschen, schon. Nur, ohne sie geht es auch nicht. Man kann einige von ihnen wie die „Medienmagnaten“ Boris Beresowskij oder Wladimir Gussinskij ins Ausland vertreiben und sie dann mit internationalem Haftbefehl suchen. Mit den anderen aber muß man im Lande klarkommen, und dies gelingt nur durch Kompromisse. Vielleicht helfen hier einige wenige strafrechtliche Prozesse, bei den Oligarchen Verständigungsbereitschaft zu fördern. Die dahinter stehende Frage einer Revision der Privatisierungen der neunziger Jahre wird Putin kaum aufwerfen. Er ist nicht nur pragmatisch, sondern auch vorsichtig. Bleibt im Innern das Problem Tschetschenien. Mit einem Ende der Terrorakte ist nicht zu rechnen. Dennoch rechnen nach Umfragen kenntnisreiche unabhängige Institute mit der Chance, daß der vom Kreml eingeleitete politische Prozeß einer Verfassung und der Wahl eines tschetschenischen Präsidenten am 5. Oktober die Zustimmung der Mehrheit der Tschetschenen findet. „Ihre Partei ist nicht meine Ideologie“ Bleibt ein Problem zu erwähnen, das bei den meisten Beobachtern der Entwicklung keine Rolle spielt, obwohl es doch für Putin bei den Wahlen zu Buche schlägt und auch die Beziehungen Rußlands zu Europa berührt. Gemeint ist Kaliningrad, das frühere Königsberg. Putin hat den russischen Einwohnern dieses Gebietes versprochen, sie würden auch weiterhin visafrei nach dem russischen Kernland und zurückreisen können. Tatsächlich hat Putin das nicht erreicht, und Litauen hat bereits mit der Ausgabe von Visa in seinem Konsulat in Kaliningrad begonnen. Die Russen in der Exklave sind enttäuscht – über Putin und die EU. Manche fragen sich nicht zu Unrecht: Warum zögert Putin, hier etwas zu unternehmen, wo es doch ein völkerrechtliches Gewohnheitsrecht (siehe Alaska) auf freien Zugang eines Staates zu seiner Exklave gibt? Vielleicht erleben wir bei allem Pragmatismus Putins in der Außenpolitik bald eine Kurskorrektur? Lange Zeit konnte man lesen, Putin pflege seine Kontakte vor allem mit Frankreich und Deutschland und bilde mit diesen Staaten eine Front gegen den Irak-Krieg der USA. Ich habe das immer für unzutreffend gehalten. Jetzt erklärt Putin, Rußland könne sich militärisch im Irak unter Führung der USA arrangieren – unter der Voraussetzung einer neuen Uno-Resolution. Vom „völkerrechtwidrigen Krieg“ zur „völkerrechtsgemäßen Besetzung“! Die Präsidentenwahlen erfolgen erst im März 2004, und dennoch sind die Duma-Wahlen eine Vorstufe dafür. Putin wird trotz aller gebliebenen Probleme wieder kandidieren und gewinnen. Wie hoch, hängt auch vom Ergebnis der Duma-Wahlen ab. Er darf daher keine Fehler machen. Dazu gehört auch die oft diskutierte Problematik, ob die Amtszeit des Präsidenten nicht verlängert werden solle. Bislang war Putin selbst dieser Meinung. Doch kürzlich sagte er, eine längere Amtszeit wäre nützlich, aber dies bedeute eine Verfassungsänderung, und an der Verfassung solle man nicht rütteln. Und nach 2008? Putins Ankündigung, man wolle – irgendwann – eine parlamentarische Regierung installieren, deutet darauf hin, daß dann die Macht vom Präsidenten auf die Regierung verlagert wird und der Präsident eine Repräsentativfunktion wie der Bundespräsident in Deutschland erhält. Das wäre dann der Zeitpunkt, an dem Putin auf den Posten des Ministerpräsidenten wechselt – er geht dahin, wo dann die Macht liegt. Präsident Putin bei Truppenbesuch: Setzt auf Geheimdienstler, Militärs und Vertraute aus St. Petersburg Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel. Heute lehrt er am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Im Jahr 2000 erschien von ihm das Buch „Wladimir W. Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?“

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