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Moralisch brüchig

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Ganz ohne Häme kann es nicht abgehen im Fall von Walter Jens, der mutmaßlich – wie seine Germanisten-Kollegen Walter Höllerer und Peter Wapnewski auch – in jungen Jahren der NSDAP beigetreten ist. Zu lange und arrogant hat er mit seiner Biographie kokettiert, sich als „linker Republikaner“ und „Radikaldemokrat“ in die Brust geworfen, der „von Anfang an nach 1945 (…) für das andere, das bessere, das demokratische Deutschland“ gesprochen hat. Jens war einer der einflußreichsten Intellektuellen, der im Gestus moralischer Überlegenheit stets und ständig die Vergangenheitsbewältigung anmahnte: bei der konservativen Intelligenz, die er für die Bücherverbrennung 1933 verantwortlich machte, beim Deutschen Fußballbund oder den Soldaten der Wehrmacht. Weil die Verführung zur Häme so groß ist, muß man die Dinge um so schärfer auseinanderhalten. Jens, Höllerer und Wapnewski gehören dem Jahrgang 1922/23 an. Als sie der NSDAP beitraten, waren sie 18 oder 19 Jahre alt. Höllerer hatte als Zehnjähriger in einem Schulaufsatz geschrieben: „Viele Sprachen will ich lernen und viele Abenteuer mit fremden Menschen erleben.“ Es waren Zukunftsträume, die begabte Kinder zu allen Zeiten hegen. Höllerer, Jens und Wapnewski hatten das Unglück, in ein System hineinzuwachsen, das ihre Wünsche ignorierte oder pervertierte. Wapnewski hat in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit beschrieben, wie im „Dritten Reich“ persönliche Entscheidungen zum „Produkt (…) fremdbestimmter Ereignisse“ wurden. Für einen Eintritt in die NSDAP sind die unterschiedlichsten Gründe denkbar. Fehlgeleiteter Idealismus beispielsweise oder der Wille, das Regime von innen heraus zu verändern, zu einer nationalsozialistischen Perestroika also. Vielleicht wollten Höllerer, Jens und Wapnewski Gefahren und Belastungen von sich abwenden oder auch nur Vorteile erlangen. Vielleicht fürchteten sie, sonst würden andere, weniger Begabte an ihnen vorbeiziehen. 1942 stand die Stalingrad-Katastrophe erst noch bevor, die Perspektive eines „Tausendjährigen Reiches“ war nicht unrealistisch. Wir Nachgeborenen, die wir uns unter viel bequemeren Umständen als Opportunisten verhalten, sollten uns hüten, diese Motive als ehrenrührig abzutun. Und ob Parteimitglied oder nicht – die entscheidende Frage lautet, ob jemand mit Anstand durch die NS-Zeit gekommen ist. Es gibt keinen Grund, von Walter Jens das Gegenteil anzunehmen. Er ist – wie so viele, Zivilisten und Soldaten – anständig geblieben, als Unmenschlichkeit Staatspolitik war. Kritiker haben angemerkt, daß die Wissenschaftler im Entnazifizierungsbogen der Alliierten die Unwahrheit angegeben haben. Heilige Einfalt! Warum sollten die Hinterbliebenen einer todgeweihten Generation den Kotau vor verständnislosen Siegern machen, persönliche Nachteile in Kauf nehmen und sich nach einer geraubten Jugend auch noch den Start ins Berufs- und Erwachsenenleben verbauen? Walter Jens ist etwas ganz anderes vorzuwerfen. Er hat es unterlassen, seine Erfahrungen, Talente und Möglichkeiten zu nutzen, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich über die Lebenswirklichkeit im „Dritten Reich“ differenziert reden ließe. In zivilisierten Ländern ist es üblich, daß der Feststellung bzw. Anerkenntnis von Schuld – so sie denn vorliegt – Sühne und Reue folgen. Danach gelten die Betreffenden wieder als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Deutschland macht mit seiner Dauerbewältigung und der Stigmatisierung einer ganzen Generation eine Ausnahme. Dazu hat Walter Jens sein Scherflein beigetragen. Nun wird die sachliche und moralische Brüchigkeit seines Handelns an der eigenen Person offenbar. Hinterher möchte man immer besser gewesen sein. Daß ihm der Heldenmut der Geschwister Scholl – die zuvor ebenfalls durch das Fegefeuer politischer Irrtümer gegangen waren – abging, ist jedoch keine Schande. In Deutschland herrscht nach zwei Diktaturen ein Gleichgewicht des inneren Unfriedens. Statt daß die Nazi-Keule beiseite gelegt wird, begegnet man ihr mit der Stasi-Lanze. Kein Geringerer als Armin Mohler hatte davor gewarnt, den westdeutschen Bewältigungsfuror auf die DDR-Vergangenheit zu übertragen. Weder in diesem noch in jenem Fall geht es um die Verharmlosung von Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung oder Schreibtischtäterei. Es geht um historische Genauigkeit und um Respekt gegenüber gelebten und beschädigten Biographien. Vor wenigen Wochen wurden einem Angehörigen des Leipziger Olympia-Komitees Stasi-Verstrickungen „nachgewiesen“, weil er 1989 als 19jähriger Wehrpflichtiger zwar keineswegs zur Stasi, sondern zum Berliner Wachregiment „Felix Dsherzinski“ eingezogen worden war. Das Regiment unterstand tatsächlich – wie jeder sicherheitsrelevante Bereich – dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Doch galten die Wehrpflichtigen in der DDR nicht als Stasi-Spitzel, sondern als Gardesoldaten, vergleichbar dem Wachbataillon, das bei Staatsbesuchen vor dem Kanzleramt aufzieht. Noch immer kann Walter Jens zur nötigen Entgiftung der Atmosphäre beitragen. Diesen Dienst ist er dem Land schuldig!

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