Ich lieb‘ dich, Schöpfung Peters, deine gestrenge, einheitliche Pracht, in dem granitenen Gesteine der Newa königliche Macht.“ So pries Puschkin im „Ehernen Reiter“ die russische Hauptstadt St. Petersburg, in deren „weißen“ Mittsommernächten er um Mitternacht ohne Lampe lesen und schreiben konnte. Die Gipfelgäste, die Präsident Putin Ende Mai zum 300jährigen Stadtjubiläum vor der prächtigen Zarenkulisse versammelt hatte, lernten nur die glänzende Fassade kennen. Das „andere“ Petersburg blieb den Gästen verborgen. So erfuhr man zwischen Galaveranstaltungen nicht, daß die 4,5-Millionen-Metropole eine selbst für russische Verhältnisse exorbitante Kriminalitätsrate aufweist, daß Hunderttausende unterhalb der Armutsgrenze leben, daß es abseits der hergerichteten architektonischen Juwelen noch immer das Elend der Hinterhöfe und Plattenbaughettos gibt. Petersburg war schon zu Zaren-Zeiten einerseits das wunderschöne „Venedig des Nordens“, aber zugleich auch eine untergründig-dämonische Stadt. Hier hat Dostojewskij seine „Erniedrigten und Beleidigten“ geschrieben. Hier, in der „westlichsten“ Stadt des Russischen Reichs, die seit 1914 Petrograd hieß, begann 1917 die östlich-totalitäre „Oktoberrevolution“. In Sichtweite brach hier 1920 der Aufstand der Matrosen von Kronstadt aus: Lenins „revolutionäre Elite“ hatte schon nach zwei Jahren vom Kommunismus dermaßen die Nase voll, daß sie unter der Parole „Sowjets ohne Bolschewiken“ den Matrosenaufstand in der vorgelagerten Festung im Finnischen Meerbusen begann. Lenin und Trotzki kannten keine Gnade: die „roten Matrosen“ wurden von ihren bolschewistischen Lehrmeistern erbarmungslos liquidiert. 1934 inszenierte Stalin in der Stadt, die seit 1924 Leningrad hieß, die Ermordung des populären örtlichen KP-Chefs Sergej Kirow – was das Startsignal zur „großen Säuberung“ mit Millionen von Opfern war und fast alle Mitstreiter Lenins das Leben kostete. Im Zweiten Weltkrieg wurde die „Belagerung“ Leningrads zu einem mythischen Heldenepos. Allerdings – Zeugen der Zeit 1941 bis 1944 sagen, es habe nie eine hundertprozentige Belagerung durch die Wehrmacht gegeben. Stets sei der Weg nach Osten über den Ladogasee und Ladogakanal offen gewesen. Als ich 1988 Leningrad mit einer Gruppe katholischer Geistlicher besuchte, berichtete uns die Fremdenführerin, wie die Deutschen wahllos und brutal die zivilen Wohnviertel mit Artillerie beschossen hätten. Einer der Mitreisenden hatte nur einen Arm. Er war damals hier als deutscher Soldat schwer verwundet worden. Er schüttelte nur den Kopf und sagte: „Wir durften gar nicht wahllos in die Stadt schießen, denn wir hatten viel zu wenig Munition. Wir durften nur auch auf ausdrücklichen Befehl feuern – und zwar nur auf ausgesuchte militärische Objekte.“ Während der Belagerung arbeitete die Leningrader Rüstungsindustrie weiter für die Rote Armee. Im Winter gab es sogar eine improvisierte Eisenbahnstrecke auf dem Eis des Ladogakanals. Gewiß – die deutsche Belagerung war eine schwere Zeit für die Bevölkerung. Aber das heutige Petersburg, das seit 1991 wieder seinen alten Namen trägt, gründet sich, so wie bereits die historische Stadt Zar Peters I., auch auf Mythen. Der einarmige katholische Geistliche sagte mir damals: „Meine Generation wird bald vor der Ewigkeit stehen. Dann wird es niemanden mehr geben, der diese Tatsachen kennt. Sieger schreiben Geschichte – die Verlierer schweigen“.
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