Gewalt hat Norman Mailer immer fasziniert: wegen Auschwitz, aber auch aus viel persönlicheren Gründen. Eine Gefängnisstrafe wegen Mordversuchs blieb ihm 1960 wohl nur erspart, weil seine damalige Frau, die Künstlerin Adele Morales, sich weigerte, Anzeige zu erstatten, nachdem er sie im Streit mit einem Taschenmesser verwundet hatte. Mailers Gegnern gilt dieser Vorfall nicht nur als Tiefpunkt seines turbulenten Privatlebens, sondern als Manifestation jener Frauenverachtung, die ihm die feministische Literaturkritik vorwirft. Mailer wäre der erste, der sich als umstrittene Figur bezeichnen würde. Immerhin hat er sein gesamtes öffentliches Leben auf diesen Ehrentitel zugeschnitten, von dem Offenen Brief, in dem er Fidel Castro 1961 bekundete: „Sie geben uns Hoffnung“ bis zu seinen USA-kritischen Äußerungen nach dem 11. September. 1984, als die Sowjetunion unter westlichen Intellektuellen fast schon aus der Mode gekommen war, bereiste er Ronald Reagans Evil Empire und fand „ein armes, ein Dritte-Welt-Land“ vor. Er befürwortete den Angriff auf Irak 1991, weil die Amerikaner einen Krieg bräuchten. Im Herbst vorigen Jahres meldete er sich im Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu Wort, um Gerhard Schröder zu seiner „mutigen Haltung“ gegenüber George W. Bush zu gratulieren. „Welcher Autor ist schon bereit, den Verdacht auf sich zu nehmen, daß er oder sie wahrhaftig die innere Logik der Gewalt versteht?“ forderte er 1991 in einer Rezension von Bret Easton Ellis‘ berüchtigtem „American Psycho“. „Wir werden erst dann etwas über extreme Gewaltakte wissen (und dieses Wissen suchen wir, nicht zuletzt, um die menschliche Natur nach dem Holocaust zu erklären), wenn ein Schriftsteller uns solche Akte intim glaubhaft macht, glaubhaft also nicht als Akte der Beschreibung (das ist nämlich nicht weiter schwer), sondern als intime Persönlichkeitszustände.“ Mailers eigener Tatsachenroman „The Executioner’s Song“ (1979; auf deutsch – zugleich prosaischer und reißerischer – „Gnadenlos“ überschrieben) singt weniger das Lied des Henkers als das des zum Tode verurteilten Gary Gilmore – wenn der denn zum Singen fähig wäre. Aber Mailer gibt sich redlich Mühe, dem intellektuell eher leichtgewichtigen Mörder Bedeutungsschweres zum Thema Sein oder Nichtsein zu entlocken, um die eigenen Tribute an Amerikas Nachtseite zu rechtfertigen. Von der Banalität des Bösen will Mailer nichts wissen. Das Herzblut seines Landes fließt als „untergründiger Fluß unerschlossenen wütenden, einsamen und romantischen Begehrens, eine Verdichtung von Ekstase und Gewalt, die das Traumleben der Nation ausmacht“. Die Helden dieser Existenzialromantik sind Männer wie der mutmaßliche Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald („Oswalds Geschichte“, 1995), und Frauen wie Marilyn Monroe („Marilyn“, 1973) – und immer wieder Mailer selbst im subversiven Gewand des Hipsters, des „weißen Negers“, vor dessen rühriger Feder kein Tabu sicher ist: Nicht jeder Schriftsteller kann eine „Reklame für mich selbst“ (1959) auf der Liste seiner Publikationen anführen. Den überlebensgroßen Schatten des Altmeisters Ernest Hemingway hatte er bald hinter sich gelassen, den eigenen erst recht in seinem Marathon der Meinungsäußerungen, Veröffentlichungen, Kontroversen. Norman Kingsley Mailer wurde am 31. Januar 1923 in New Jersey geboren und wuchs in Brooklyn auf. Als Neunjähriger verfaßte er seinen ersten Roman, eine epische Science-Fiction-Geschichte. Er studierte Luftfahrttechnik in Harvard und diente während des Zweiten Weltkriegs in der US-Marine. Nach dem Krieg schrieb er sich an der Sorbonne ein, wo er seine Erfahrungen auf den Philippinen und in Japan zu einem fulminanten Roman verarbeitete. Mit dem Erscheinen von „Die Nackten und die Toten“ gelang ihm 1948 auf Anhieb der Durchbruch zum Erfolg. In brutalster Sprache bringt Mailer dem Leser Schlamm und Fäulnis des Dschungelkrieges hautnahe. Obwohl keineswegs pazifistisch gemeint – dafür bleibt Mailer zu sehr dem Naturalismus des 19. Jahrhunderts verhaftet, der menschliches Dasein als einzigen Überlebenskampf darstellt -, wurde der Roman häufig so verstanden. Sicherlich zählte „Die Nackten und die Toten“ zu den einflußreichsten Vorbildern, als eine spätere Generation von Veteranen desillusioniert die Uniformen ablegte, um sich als Schriftsteller zu versuchen. Mailer selber hat sich mit dem Vietnamkrieg in Texten wie „Why Are We In Vietnam?“ (1967) und „The Armies of the Night“ (1968) intensiv auseinandergesetzt. Mailers Themen sind physische und psychische Extrembelastungen und wie Menschen mit ihnen umgehen, Männer vor allem: Prominente und Niemande, Soldaten, Boxer („The Fight“, 1975), Künstler („Picasso“, 1988, „Genius and Lust“, 1976, über Henry Miller), Gottes Sohn („Das Jesus-Evangelium“, 1997). Sogar Gary Gilmore „handelte so gut, wie er handeln konnte“. Der Kleinkriminelle, der sein halbes Leben im Gefängnis verbracht hatte, erschoß 1976 zwei Menschen. Internationale Berühmtheit erlangte er erst, als er das jahrelange legale Gerangel, das sonst jedem Todesurteil folgt, kurzerhand abbrach und Amerika herausforderte, zu seinen Überzeugungen zu stehen und ihn umgehend hinzurichten – durch ein Erschießungskommando. Der deutsche Titel spielt klug auf Truman Capotes „Kaltblütig“ an. Solche Adjektive meinen nur auf den ersten, konventionellen Blick die Morde selbst. Vielmehr beschreiben sie ein System, das – so der Tenor dieser Henkersgesänge – Männer wie Gilmore oder Capotes Helden (und, wie manche munkeln, Liebhaber) Perry Smith seelisch in die Enge treibt und dann mit „wissenschaftlichen“ Methoden wie dem elektrischen Stuhl oder der Giftspritze entsorgt, wenn sie sich freizuschießen versuchen. Wenige Jahre nach Gilmores Tod verbrannte sich Mailer an einer ähnlichen Geschichte die sonst so gewandte Zunge: Er protegierte Jack Henry Abbott, der wegen bewaffneten Raubüberfalls und der Ermordung eines anderen Häftlings eine neunzehnjährige Haftstrafe absaß, half ihm, seine Briefe in der renommierten New York Review of Books und später in Buchform zu veröffentlichten. Dank Mailers Fürsprache wurde Abbott 1981 auf Bewährung entlassen. Sechs Wochen später erstach er den Kellner Richard Adam. „Seit dem Ersten Weltkrieg haben die Amerikaner ein Doppelleben geführt“, behauptet Mailer in einer Schlüsselpassage der „Presidential Papers“ (1963), denn „als der Westen voll war, wandte sich die Expansion nach innen. …. Die Filmstudios richteten ihre Scheinwerfer auf eine Wildnis, die es nicht mehr gab, und die alte Romantik der Eroberung, der Landnahme wurde zu einem vertikalen Mythos in den Köpfen der Menschen: dem Mythos eines neuartigen Heldentums. … Fast war es, als gäbe es keinen Frieden, es sei denn, man wußte zu kämpfen und zu töten (und zwar ehrenhaft), zu lieben und zwar viele, cool zu sein und kühn und wild … Und dieser Mythos, daß jeder Einzelne unter uns zur Freiheit geboren ist, geboren, um durch die Welt zu streifen, Abenteuer zu erleben und an den Wogen des Gewaltigen, des Parfümierten, des Unerwarteten zu gedeihen, dieser Mythos war unbezwingbar. So sehr sich auch die Regulierer der Nation – die Politiker, Ärzte, Polizisten, Professoren, Pastoren, Rabbis, Priester, Ideologen, Psychoanalytiker, Bauherren, Generaldirektoren und die unermüdlichen medialen Meinungsmacher – bemühen mochten, das moderne Leben einzumauern mit ihrer geistigen Hygiene und ihren schlichten Lebensweisheiten, der Mythos war nicht totzukriegen. Er erzeugte bestimmt ein Viertel des Bruttosozialproduktes. Aber nicht deswegen lebte er weiter – nein, es war, als übermittelten die Gene eine Botschaft, die darauf beharrte, daß Schöpfung nicht ohne Gewalt ging, daß Abenteuer das Geheimnis der Liebe war.“ Das Lebenswerk, auf das Norman Mailer heute zurückblicken kann – vierzig Bücher, ungezählte journalistische Texte, Filmskripte und Bühnenstücke, zwei Pulitzer-Preise (1969 und 1980), sechs Ehen und neun Kinder -, hat viel dazu beigetragen, den Mythos nicht aussterben zu lassen.
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