Wir brauchen den Mut zu unkonventionellen Wegen in der Politik, wenn unser Land die großen Herausforderungen, vor denen es steht, meistern soll. Es ist daher sicherlich als programmatisch zu verstehen, daß Johannes Rau seine diesjährige „Sommerreise“ in den Frühling gelegt hat. Man darf sich durch bürokratische Vorgaben des Kalenders terminologisch nicht einengen lassen. Wenn es in diesem Frühling so heiß ist wie sonst nur in einem richtig guten Sommer, muß man die Courage an den Tag legen, dies auch offen zum Ausdruck zu bringen. Wer weiß zudem, wie sich das Wetter in den kommenden Wochen entwickelt? Vielleicht wird es regnerisch und kalt? Soll man dies etwa abwarten, bevor man auf Menschen zugeht, um mit ihnen über ihre Probleme zu sprechen? Das würde doch zusätzlich auf die Stimmung drücken. Und überhaupt sind die Jugendlichen, auf die es der Bundespräsident heuer exklusiv abgesehen hatte, im kalendarischen Sommer nur eingeschränkt verfügbar. Sie sind im Freibad oder auf Open-Air-Konzerten. Manche kellnern, um sich ihr Studium zu verdienen. Wieder andere verreisen, um den Lehrstellenmangel für einen Augenblick zu vergessen. Im Frühling hingegen hat er sie alle ohne organisatorische Schwierigkeiten zu Gesicht bekommen können: Auszubildende bei Daimler-Benz, Fans von Borussia Dortmund, Viva-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Trainees der Deutschen Bank, Wehrpflichtige, ein richtig runder Querschnitt durch das also, was vom einstigen soziologischen Massenphänomen „Jugend“ noch übriggeblieben ist. Vielleicht hat die als „einwöchig“ deklarierte Reise auch deshalb bloß vier Tage gedauert. Mehr repräsentative Kleingruppen waren einfach nicht drin. Vielleicht wollte Johannes Rau aber auch etwas ganz anderes signalisieren, daß nämlich vier Tage Wochenarbeitszeit genug sind? Daß wir also gar nicht darüber nachdenken sollten, früher, mehr und länger zu arbeiten, sondern im Gegenteil: daß wir eine neue Bereitschaft entwickeln müssen, das Leben zu genießen, so wie auch der Bundespräsident mit seiner Frau das Leben genießt, nach der ganzen Plackerei in der praktischen Politik, die hinter ihm liegt. Kann man in vier Tagen alles hören und sagen, was in dieser schwierigen Zeit wichtig und bedenkenswert ist? Johannes Rau ist es gelungen. Die Jugendlichen von heute sind die Erwachsenen von morgen. Was die Zukunft bringt, können wir nicht wissen, aber mitgestalten. Nur wer Verantwortung übernimmt, handelt verantwortungsvoll. Wenn wir das Gefühl haben, daß von unserem Gemeinwesen nicht viel zu erwarten ist, sollten wir zunächst versuchen, mehr für es zu leisten. Demokratie lebt vom Mitmachen. Und Mitmachen macht eigentlich Freude. So wie es Johannes Rau Freude gemacht hat. Mit der Politik ist es nämlich, sagt er, so wie mit den Erdnüssen. Man kann nicht von ihnen lassen. Dies ist eine Sprache, die jeder versteht. Der Bundespräsident weiß, was die Stunde geschlagen hat. Die Zeit der Politik-Inszenierungen ist vorbei.
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