In einem ebenso böswilligen wie von Halb-, Viertel- und ausgesprochenen Unwahrheiten strotzenden Artikel hat Tobias Schneider unlängst in der Süddeutschen Zeitung anläßlich einer Tagung der Klages-Gesellschaft in der Münchner Seidlvilla am 28./29. Juni so ziemlich alle Klischees bedient, die einer reißerischen Tagespublizistik zu Ludwig Klages (1872-1956) einfallen können („Ich Tarzan, du Seele“, SZ vom 1. Juli 2003). Da Schneider sowieso davon überzeugt war, daß es sich bei Klages – einem der Hauptvertreter der deutschen Lebensphilosophie sowie dem Begründer der wissenschaftlichen Graphologie und Charakterkunde – lediglich um einen antisemitischen NS-Philosophen gehandelt habe, konnte er dieses „Wissen“ verbreiten, ohne sich von dem einzigen der insgesamt sieben dem Themenkomplex von „Natur, Mythos und Kunst im Denken von Ludwig Klages“ gewidmeten Vorträge beirren zu lassen, den zu besuchen er sich die Mühe gemacht hat: nämlich „Mythos und Tragödie bei Klages und Deubel“, in dem Baal Müller gerade die Gegensätze zwischen der von Nietzsche geprägten Mythos- und Tragödienkonzeption dieser Autoren – bzw. der von dem Dramatiker Werner Deubel intendierten „deutschen Kulturrevolution“ – und dem Nationalsozialismus hervorhob. In ähnlicher Weise phantasierte Schneider anhand des Vortragstitels „Die Arten der Ekstase bei Ludwig Klages und ihre Entsprechungen in der Antike“ (Robert Kozljani) vom Versuch einer Restauration mythischer Zeitalter. Der einzig bemerkenswerte Punkt an Schneiders Auslassungen ist die angeblich „aktuell sich abzeichnende Klages-Renaissance“, vor der er anscheinend warnen zu müssen glaubt und die er, neben der amerikanischen National Alliance und der Klages-Gesellschaft, auch von der JUNGEN FREIHEIT vorangetrieben sieht, die „zuletzt zahlreiche Artikel über Klages lanciert“ habe – tatsächlich erschienen in der JF nur zwei den Philosophen betreffende Artikel in den letzten fünf Jahren. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß sich Klages seit einigen Jahren eines gesteigerten Interesses erfreut, nachdem er vor allem infolge des Einflusses der „Kritischen Theorie“ in Vergessenheit geraten zu sein schien. Daß er trotz der zunehmenden Vereinheitlichung des Meinungsklimas nach 1968 nicht völlig aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwand, lag neben der Tätigkeit der Klages-Gesellschaft, die seit 1964 die Herausgabe seiner Sämtlichen Werke förderte, und seiner Bedeutung für eine nicht mehr positivistisch, sondern spezifisch geisteswissenschaftlich und hermeneutisch verfahrende Graphologie insbesondere an seiner scharfen Kritik der industriellen Zerstörung von Natur und Landschaft. Aufgrund dieser Haltung – am prägnantesten 1915 in dem Aufruf „Mensch und Erde“ formuliert – galt er seit den siebziger Jahren als Vordenker des konservativen Flügels der Ökologie-Bewegung: Als solchen nahm ihn auch Heinz-Siegfried Strelow in seinem Vortrag über „Die Diktatur der Zauberlehrlinge“ für eine Kritik der Gentechnik in Anspruch. Seit den neunziger Jahren gerät jedoch seine Philosophie insgesamt stärker in den Blick, was sich in mehreren, zum Teil gewichtigen Werken niederschlug: Nachdem Steffi Hammers umfassend angelegter Sammelband „Widersacher oder Wegbereiter?“ 1992 das Verhältnis von Ludwig Klages zur Moderne untersucht hat, widmete Michael Großheim 1994 seine Dissertation dem Thema „Ludwig Klages und die Phänomenologie“ und hob Klages‘ Ansatz eines rezeptiv orientierten Sicheinlassens auf die Wirklichkeit von den zum Teil verwandten, insgesamt aber stärker konstruktivistisch gearteten Positionen von Husserl, Scheler und Heidegger ab; im selben Jahr veröffentlichte Michael Pauen seine Habilitationsschrift „Dithyrambiker des Untergangs“ zum „Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne“, die das Bild von Klages als philosophischem Vertreter des Neuheidentums um den Aufweis des am deutlichsten in seinem Geist-Seele-Dualismus zum Ausdruck kommenden Neognostizismus ergänzt. 1997 erschienen die gesammelten „Vorträge und Aufsätze“ von Franz Tenigl, der Hans Eggert Schröders monumentale dreibändige Klages-Biographie bereits 1992 zu Ende geführt hatte; 1999 folgten „Die Vergöttlichung des Irdischen“ von Karl-Heinz Kronawetter, der das Verhältnis von Klages „ökologischer Lebensphilosophie“ zur christlichen Theologie behandelte, und Thomas Behnkes Dissertation „Naturhermeneutik und physiognomisches Weltbild“, die erstmals Klages‘ Naturphilosophie im Kontext der naturwissenschaftlichen Entwicklungen des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Das derzeit aktuellste Buch über Klages stammt von Reinhard Falter und erscheint in Kürze im Münchner Telesma-Verlag; es liefert unter dem Titel „Ludwig Klages – Lebensphilosophie als Zivilisationskritik“ zunächst eine systematische Einführung in sein Denken, um es anschließend von verwandten Ansätzen wie denjenigen von C.G. Jung, Walter Benjamin, Max Scheler, Hans Prinzhorn oder Walter F. Otto abzuheben. Ein besonderes Gewicht legt Falters Darstellung auf die – von führenden NS-Ideologen wie Rosenberg und Bäumler hervorgehobene – Unvereinbarkeit der Klages’schen Geist- und Zivilisationskritik, seines Antimilitarismus und anarchischen Anti-Etatismus mit der nationalsozialistischen Weltanschauung sowie auf die Differenzen zwischen Klages‘ Kritik am jüdisch-christlichen Monotheismus und einem rassisch begründeten Antisemitismus. Daß auch Tobias Schneider solche Unterschiede bekannt sind, belegen seine Ausführungen in den „Publikationen des Nietzsche-Forums München“ („Mit Nietzsche denken“, Bd. 1, 1999). Dort heißt es: „In Schuler und Klages allein Vordenker des Antisemitismus und Wegbereiter des Nationalsozialismus zu sehen, wie es oft getan wird, kann ihrer Bedeutung nicht gerecht werden.“ Offenbar sind es solche Anwandlungen von Zivilcourage, von denen sich Schneider seit seinem Wechsel vom Bayernkurier zur Süddeutschen nachdrücklich distanzieren zu müssen glaubt. Foto: Ludwig Klages (1872-1956): Gesteigertes Interesse