Bücher lesen ist anstrengend. Goethes „Faust I“ zum Beispiel, einer der Klassiker der deutschen Literatur, umfaßt je nach Ausgabe 140 bis 200 Seiten Text, geschrieben in komplexer Sprache, in der sich ein anspruchsvoller Gedanke an den nächsten reiht. Das Werk verlangt von uns Stunden, bisweilen Wochen geduldiger Lektüre.
Aber wozu sich die Mühe machen? Google, Wikipedia oder ChatGPT liefern in Sekunden eine verständliche Zusammenfassung, die uns den ganzen Aufwand abnimmt. Wer sich das Lesen komplett ersparen möchte, findet auf Youtube Podcasts oder animierte Erklärvideos, die in wenigen Minuten den gesamten Faust aufbereiten. Und wer einfach nur in eine spannende Geschichte eintauchen und dem Alltagsstreß entfliehen will, kann auf Netflix, Amazon Prime oder Disney+ aus einer Fülle von Serien wählen, die deutlich zugänglicher sind als literarische Klassiker und mindestens genauso unterhaltsam.
Manch einer mag deshalb zu dem Schluß kommen, das Bücherlesen sei heute überflüssig geworden. Doch genau das Gegenteil ist richtig: Gerade heute, in Zeiten der digitalen Bequemlichkeit, ist das Medium Buch unverzichtbar – nicht primär als Informationsträger, sondern wegen der besonderen Weise, wie es unser Denken und Fühlen formt.
Bücher lesen schärft unseren Geist
Der kanadische Philosoph und Medientheoretiker Marshall McLuhan (1911–1980) hat diese Einsicht auf eine eingängige Formel gebracht: Das Medium ist die Botschaft. Gemeint ist damit, daß die Art und Weise, wie Informationen übermittelt werden, ebenso entscheidend ist wie der Inhalt selbst. Auf Bücher übertragen bedeutet das: Das Lesen eines Buches – die Auseinandersetzung mit einem Text über Stunden hinweg – formt unseren Geist auf eine Weise, die weder Kurzvideos oder Zusammenfassungen noch Podcasts oder Serien erreichen.

Forschungen aus der Kognitionswissenschaft zeigen, daß das intensive Lesen von zusammenhängenden Texten besondere mentale Prozesse aktiviert – Prozesse, die in der schnellen, fragmentierten Informationsaufnahme digitaler Medien ausbleiben. Leseforscher nennen dieses Phänomen „tiefes Lesen“ oder „deep reading“: sich über einen längeren Zeitraum konzentriert mit einem Text auseinandersetzen, Thesen prüfen, über eine Passage nachdenken und den Inhalt nicht bloß passiv aufnehmen wie beim Ansehen eines Videos oder beim Hören eines Podcasts.
Das vertiefe Lesen schärft unseren Geist wie kaum eine andere Aktivität: Es stärkt unser logisches, analytisches und kritisches Denken, es vergrößert unsere Aufmerksamkeitsspanne, es verbessert unsere Gedächtnisleistung, es erweitert unseren Wortschatz, es macht uns zu besseren Rednern ebenso wie zu besseren Schreibern. Oder kurzum: Es macht uns zu klügeren Menschen.
Das gedruckte Buch ist dem E-Book überlegen
Da es das Medium selbst ist, das uns prägt, ist das Lesen eines gedruckten Buches auch nicht das gleiche wie die digitale Lektüre. Beides sind unterschiedliche Medien, und Metastudien belegen, daß der gedruckte Text dem Bildschirmtext aus einer Reihe von Gründen überlegen ist. Beim Lesen auf einem Bildschirm neigen wir stärker dazu, einen Text lediglich zu überfliegen, von Satzanfang zu Satzanfang zu springen, um so schnell wie möglich die relevanten Informationen zu identifizieren. Dieses Vorgehen mag Zeit sparen, aber es verhindert das tiefe Lesen.
Hinzu kommt das große Ablenkungspotential, das Smartphone, Tablet oder PC bergen. Speziell wenn wir an einer schwierigen Stelle im Text angelangt sind, verfallen wir leicht der Versuchung, rasch unsere E-Mails zu checken, nachzuschauen, ob unser Freund auf WhatsApp schon zurückgeschrieben hat oder uns durch die neuesten Postings auf X zu scrollen. Der Text, auf den wir uns eigentlich konzentrieren wollten, rückt aus dem Blick.
Große Literatur macht uns zu größeren Menschen
Das alles gilt gleichermaßen für Sachbücher wie für Belletristik. Es gibt allerdings Einsichten und Erfahrungen, die uns nur die Literatur vermittelt. Der US-amerikanische Literaturkritiker Harold Bloom hat für das, was große Literatur in uns auslösen kann, den Begriff der „Andersheit“ gefunden. Er meint damit die Erkenntnis, daß unser Leben in Wahrheit größer und tiefer ist, als wir es im Alltag empfinden. Daß hinter der Alltagswelt eine andere Welt liegt, die wichtiger ist. Die „Andersheit“ erzeugt eine Mischung aus Erhabenheit und Schrecken in uns, und sie hilft uns dabei, selbst größer und tiefer zu werden.
Sie ist auch der Grund dafür, warum uns Literatur Trost spendet, obwohl die meisten Geschichten mit alles anderem als einem Happy-End aufwarten. Gregor Samsa in Kafkas „Verwandlung“ mag zwar am Ende sterben und von seiner Familie im Stich gelassen werden. Schillers „Räuber“ mögen mit einer regelrechten Selbstmord- und Todesorgie enden. Aber diese Geschichten erinnern uns daran, daß wir nicht allein, sondern Teil von etwas Größerem sind, und geben uns die Möglichkeit, unsere eigenen Sorgen und Nöte aus einer gesunden Distanz zu betrachten.
Daneben bietet das Lesen von Romanen, Erzählungen oder Dramen ganz bodenständige Vorzüge. Es fördert unsere emotionale Intelligenz und Empathie, weil wir die Innenwelt der Figuren kennenlernen, die oft aus einer vollkommen anderen Perspektive auf die Welt blicken als wir. Es belebt unsere Kreativität und Vorstellungskraft. Und das Wichtigste: Geschichten zu lesen bereitet einfach enormes Vergnügen.
Ja, Bücher lesen ist anstrengend. Aber es macht uns klüger und stärkt uns im Alltag. Wie wäre es, einfach mit der ersten Seite anzufangen und danach neu zu entscheiden, ob wir wirklich lieber auf dem Handy herumscrollen oder die Netflix-Serie anwerfen wollen?