MÜNCHEN/BERLIN. Mehr als 15.000 E-Mails sind über die Lebensschutzorganisation 1000plus an Bundestagsabgeordnete verschickt worden, um die Wahl der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht zu verhindern. „Das ist ein überwältigender und atemberaubender Erfolg“, sagte 1000plus-Geschäftsführer Kristijan Aufiero am Donnerstag der JUNGEN FREIHEIT.
Seine Organisation hatte im Internet eine Seite eingerichtet, über die man sich direkt an den eigenen Wahlkreisabgeordneten wenden kann. Hintergrund ist das Entsetzen von Lebensschützern über die Haltung Brosius-Gersdorfs zum Thema Abtreibung. Die Potsdamer Professorin setzt sich für eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein und stellt infrage, daß Ungeborene Menschenwürde haben.
Lebensschützer ist „fassungslos“ über Merz
„Fassungslos“ zeigte sich Aufiero über eine Wortmeldung von Bundeskanzler Friedrich Merz vom Mittwoch. Der Christdemokrat hatte auf die Frage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine Frau zu wählen, die einem Kind zwei Minuten vor der Geburt die Menschenwürde abspreche, mit einem einfachen „Ja“ geantwortet.
„Man kann im Moment wohl nur erahnen, was diese Antwort in ihrer ganzen Tragweite für unser Land und für das Wohl von Millionen Schwangeren in Not und ihrer ungeborenen Kinder bedeutet“, klagte Aufiero gegenüber der JF. Zugleich gelte es nach wie vor, mindestens 59 aufrechte Unionsabgeordnete darin zu bestärken, „bei der morgigen Abstimmung ihrem Gewissen zu folgen“.
Der Bundestag stimmt am Freitag über die Wahl von drei neuen Verfassungsrichtern ab, unter ihnen Brosius-Gersdorf. Die Abstimmung ist geheim. Für eine erfolgreiche Wahl sind zwei Drittel der abgegebenen Stimmen nötig. Sollten die Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken für Brosius-Gersdorf stimmen, bräuchte es 59 Abweichler bei CDU und CSU, damit die Wahl scheitert.

„Das Tafelsilber der CDU verramscht“
Auch andere Lebensschutzorganisationen zeigen sich entsetzt. „Die Menschenwürde war mal antastbar in Deutschland, sie wurde schon einmal relativiert und für bestimmte Menschen ausgesetzt“, warnte die Vorsitzende der „Aktion Lebensrecht für Alle“ (Alfa), Cornelia Kaminski, am Donnerstag im Interview mit der JF. „Das darf nie wieder passieren.“ Kaminski betonte, daß sie von der Basis der C-Parteien „blankes Entsetzen“ höre. Über die Aussage des Kanzlers vom Mittwoch sagte sie, Merz habe „das Tafelsilber der CDU verramscht“. Alfa hat für Freitag zu einer Demo vor dem Paul-Löbe-Haus des Bundestages aufgerufen.
Die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben, Susanne Wenzel, hatte bereits in der vergangenen Woche gewarnt, die CDU würde „an der Aufhebung des uneingeschränkten Lebensrechtes von Kindern vor ihrer Geburt mitwirken“, sollte sie Brosius-Gersdorfs Kandidatur ermöglichen. Am Donnerstag legte sie mit einer weiteren Stellungnahme nach: Merz habe mit seinem Statement am Mittwoch „völlig ohne Not“ die Solidarität mit der Parteibasis aufgegeben.
Aber auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt, positionierte sich kritisch. Deren Bundesvorsitzende Ulla Schmidt, eine frühere Bundesgesundheitsministerin aus der SPD, betonte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „daß die Menschenwürde bereits im Mutterleib gilt“. „Für mich als Sozialdemokratin und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe ist es wichtig, daß wir niemals zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben unterscheiden. Jedes Leben ist lebenswert – und hat Menschenwürde auch schon im Mutterleib.“
Breite Kritik aus der katholischen Kirche
Die römisch-katholischen Bischöfe Stefan Oster und Rudolf Voderholzer warfen Brosius-Gersdorf – ohne die Professorin namentlich zu nennen – am Mittwoch in einer Stellungnahme einen „radikalen Angriff auf die Fundamente unserer Verfassung“ vor. So jemandem dürfe „nicht die verbindliche Auslegung des Grundgesetzes anvertraut werden“. „Es darf in Deutschland nie wieder Menschen zweiter Klasse geben.“
Der Weihbischof Thomas Maria Renz attestierte den Christdemokraten in einem Brief, ein „Gentlemen’s Agreement“ mit vielen Christen im Land „einseitig aufgekündigt“ zu haben, wie die Tagespost berichtet. Er warnte davor, daß Christen politisch heimatlos und „sich plötzlich in einer rechtskonservativen Ecke wiederfinden würden“.
Auch die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, zeigte sich am Donnerstag „sehr beunruhigt“. Menschliches Leben sei „Leben von Anfang an“, betonte sie gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur. „Es ist inakzeptabel, ihm in seinen neun Monaten im Mutterleib keine Menschenwürde zuzusprechen.“
Abgeordneter begründet Nein zu Brosius-Gersdorf
Aus der Unionsfraktion hatten sich in der vergangenen Woche Stimmen anonym mit Kritik zu Wort gemeldet. So bezeichnete ein Bundestagsabgeordneter Brosius-Gersdorf in der FAZ als „lebensfeindlich“. Der Vorsitzende der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, schrieb bei X, die Aussagen der Juristin zur Menschenwürde Ungeborener halte er „mit meinem christlichen Wertefundament für schwierig“.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Pilsinger erklärte in einer Stellungnahme, aus der Nius zitiert, zentrale Positionen von Brosius-Gersdorf seien „nicht mit dem christlichen Menschenbild vereinbar“. Er werde ihrer Wahl daher „aus Gewissensgründen nicht zustimmen“.
Der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Hoffmann, verteidigte Brosius-Gersdorf derweil in der FAZ: Die Juristin sei „eine respektable Kandidatin der SPD – und ganz sicher keine linksradikale Aktivistin“. Ihre Wahl sei „kein Angriff auf den Schutz des ungeborenen Lebens“. Auf der Kampagnen-Plattform CitizenGo hat eine Petition gegen die Wahl von Brosius-Gersdorfs bis zum Donnerstagnachmittag derweil mehr als 118.000 Unterschriften gesammelt. (ser)