Nach der Vertreibung Napoleons nahm die 1789 gestürzte Bourbonen-Monarchie einen neuen Anlauf zur Macht. Diese „erste Restauration“ geriet seit Mitte der 1820er jedoch immer tiefer in den Strudel einer Wirtschafts- und Finanzkrise, die sich zuspitzte, als zwischen 1827 und 1830 wegen schlechter Ernten die Getreide- und Brotpreise explodierten und den Unterschichten Hunger und Elend bescherten, während das neoabsolutistische Regime gleichzeitig versuchte, das Bürgertum mit diktatorischen Maßnahmen wie der Einschränkung der Pressefreiheit, der Verschärfung der Zensur und der Begrenzung des Wahlrechts von der Herrschaftsteilhabe auszuschließen.
Diese Politik scheiterte endgültig am 28. Juli 1830, als sich eine wochenlange Presseagitation in Paris wie überall in der Provinz in eine Revolution verwandelte, die König Karl X. vom Thron fegte. Der dann rasch die Spitze abgebrochen wurde, weil Exponenten der liberalen Großbourgeoisie Louis-Philippe, Herzog von Orleans, den Sproß einer bourbonischen Nebenlinie, zum neuen „König der Franzosen“ ausriefen und damit eine zweite Phase der Restaurationsära einläuteten.
Um das historische Ereignis dieser Revolution im Bild festzuhalten, begann Eugène Delacroix (1798–1863), ein „Bahnbrecher der modernen Malerei“ (van Gogh), mit der Arbeit am großflächigen Ölgemälde „Le 28 juillet“ mit dem Untertitel „La liberté guidant le peuple“ (Die Freiheit führt das Volk). Die Regierung des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe kaufte es im März 1831 an, dekorierte Delacroix mit dem Kreuz der Ehrenlegion und ließ es im Frühjahrssalon ausstellen, wo Kritiker und Publikum überwiegend enthusiastisch reagierten.
Der Jenaer Kunsthistoriker Johannes Grave stellt sich gängigen Deutungen
Dieses seit 1874 im Louvre hängende Werk gilt als Paradestück politischer Ikonographie, „als eines jener seltenen Bilder, denen es gelingt, alles zu erfassen und darzustellen, was ein Jahrhundert beunruhigt und worin dessen Wesen und Bedeutung beschlossen sind“ (René Huyghe, 1967).
Eine bald 200jährige Rezeptionsgeschichte dokumentiert, daß das Gemälde in der westlichen Bildkultur und ihrem kollektiven Gedächtnis fast durchweg positiv konnotiert wird. Scheint seine Botschaft doch erfrischend eindeutig in der Verherrlichung des Volkes zu bestehen, das gegen seine Unterdrücker auf die Barrikaden geht und seine Freiheit erkämpft. Die „Freiheit“ ist hier das personifizierte Gute der Weltgeschichte, verkörpert von der allegorischen, als Lichtgestalt inszenierten Figur einer die Trikolore schwenkenden barbusigen Marianne mit roter Jakobinermütze, die über Tote und Verwundete hinweg in eine helle Zukunft der Menschheit stürmt.
Für den Jenaer Kunsthistoriker Johannes Grave verfehlt eine solche, bisher dominierende Schwarz-Weiß-Deutung Delacroix’ künstlerische Absichten vollständig. Das trete vor allem dann zutage, wenn man die „schillernden Ambivalenzen und gezielten Unbestimmtheiten“ der Darstellung freilege. Die stecken für Grave schon im Untertitel, der die verstörende Frage aufwirft, welche Freiheit hier eigentlich gemeint ist, wenn die Liberté das Volk führt.

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Wie erfahre das Volk die Freiheit, wenn es ihrer Führung folgen muß?
Berge doch die Kopplung von Freiheit und Führung unvermeidlich eine fundamentale Spannung in sich: Wie erfahre das Volk die Freiheit, wenn es ihrer Führung folgen muß?
Diese Aporie verschärft sich, wenn man erwägt, daß Delacroix’ Komposition auch Überlegungen des frühliberalen Publizisten Benjamin Constant (1767–1830) aufgreift und illustriert, indem er mit den Leibern der Niedergemetzelten und Ausgeplünderten im Vordergrund daran erinnert, daß die hier triumphierende „Freiheit“ dem Individuum auch das Opfer des eigenen Lebens zumutet. Und damit warnend auf ein antikes Freiheitsverständnis verweist, für das die Freiheit des Ganzen, der Polis, unbedingten Vorrang vor der individuellen Freiheit hat, während die damit unvereinbare naturrechtlich begriffene Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit des Individuums im Zentrum des modernen Welt- und Menschenbildes steht.
Delacroix als Progressiven einzuordnen, ist kaum plausibel
Insoweit nehmen der Denker Constant und der seine Ideen ins Bild übersetzende Delacroix vorweg, was politische Theoretiker wie Jacob Talmon während des Kalten Krieges auf die Formel „totalitäre Demokratie“ brachten, deren menschenfeindliches Potential sich erstmals im Guillotine-Terror entlud und das sich heute in „volksdemokratischen“ Autokratien oder „kapitalistischen Überwachungsregimen der demokratischen Mitte“ mehr oder weniger kraß verwirklicht.
Zweifel an der simplen, vom ersten Eindruck gesteuerten Auffassung, das Gemälde verstünde sich als heroisierende Hommage an die Revolution, ergeben sich für Grave schon aus den Details von Delacroix’ Herkunft. Sein Vater war Mitglied der Revolutionsregierung, amtierte später unter Napoleon als Präfekt zweier wichtiger Städte Frankreichs, seine älteren Brüder machten in der Armee des Imperators Karriere. Deswegen sei die von einigen Kunsthistorikern vertretene Position, Delacroix als „Sympathisanten progressiver Politik“ einzustufen, kaum plausibel.
Stichhaltiger sei die These, daß der Künstler als konservativ-liberaler Bonapartist dem Empire nachtrauerte und, weil die Familie nach 1815 Einfluß und Wohlstand einbüßte, sich mit Ingrimm ins buntscheckige Lager der Gegner der Bourbonen-Restauration begab. Bezeugt ist überdies, daß der Maler während der Revolutionstage als neugieriger Spaziergänger und neutraler Beobachter durch Paris schlenderte, gegenüber Freunden „tiefe Vorbehalte“ gegen die Aufständischen äußerste und deren Treiben als Bedrohung bürgerlicher „Ruhe und Sicherheit“ fürchtete, die ihm Voraussetzungen des einzigen „Lebensziels“ waren, dem Genuß seiner persönlichen Freiheit.

Das „Freiheitsbild“ könnte auch „Kritik an der Revolution“ sein
Schwerer als solche biographischen Indizien fällt für den Kunstprofessor Grave allerdings ins Gewicht, was die Bildkomposition weltanschaulich-politisch verrät. Da ist im Vordergrund zunächst die Entourage der Marianne, der mit seinen Pistolen fuchtelnde Junge, der Zylinderträger mit der doppelläufigen Jagdflinte, die enthemmten Schlägertypen hinter ihm.
Bereits linke zeitgenössische Kunstkritiker monierten, Delacroix präsentiere diese wackeren Revolutionäre wie Verbrecher aus dem Vorstadtmilieu, werfe den anarchisch tobenden Pöbel aufreizend ungeschönt auf die Leinwand. Darum errege die Revolution mehr Abscheu als Begeisterung.
Das „Freiheitsbild“, so nahm ein Kritiker die subversive Sprengkraft des Arrangements ins Visier, sei in Wahrheit „ein ziemlich übler Angriff auf die Freiheit“. Das Gemälde könne daher auch als „regelrechte Kritik an der Revolution oder wenigstens an deren Akteuren aufgefaßt werden“.
Das Volk bekam weder Freiheit noch Demokratie
Tatsächlich scheine Delacroix mit derart häßlichem Personal die den Herrschenden unliebsame Lektion ins Gedächtnis rufen zu wollen, daß das einfache Volk die Julirevolution zwar siegreich ausgefochten hatte, es aber keineswegs zu ihren Profiteuren, sondern zu ihren großen Verlierern zählte, weil es weder die Freiheit noch die Demokratie bekam. Was sich stattdessen mit Louis-Philippes Julimonarchie etablierte, war eine großbürgerliche „Aktienkompanie zur Ausbeutung des französischen Nationalvermögens“ (Karl Marx, 1851), die der wölfischen Parole „Bereichert euch“ gehorchte, um ins „Zeitalter der brutalsten Herrschaft des Reichtums“ (Eugen Rosenstock, 1931) einzutreten.
Angesichts dieser komplexen historischen Konstellation verbot es sich für Delacroix, ein für die Revolution Partei nehmendes Bekenntnisbild zu schaffen oder sich mit der künstlerischen Denunziation des gewaltaffinen Proletariats beim Großbürgertum einzuschmeicheln. Um solche Reduktionen des Geschehens zu verhüten und die latente Widersprüchlichkeit des Dargestellten zu entfalten, setzt der Maler Techniken ein, die den Betrachter auf Distanz zur ohnehin fragilen Einheit des Tableaus bringen sollen.
Deshalb kommen mit zahllosen Details Informationen ins Bild, die den Blick immer wieder vom Zentrum, der Sexualität, Gewalt und Tod, Individuum und Allegorie irritierend verschränkenden Marianne in ihrer „abgründigen Nacktheit“ ablenken. Auf ähnliche Effekte spekuliere Delacroix mit zwei auf kleinstem Feld plazierten Szenen im Bildhintergrund, wo das Militär zur Niederschlagung der Revolution aufmarschiert, und wo auf einem Turm von Notre-Dame die Trikolore weht.
Der Zuschauer soll verharren
Durch signifikante, in der Manier eines „Wimmelbildes“ gehäufte Informationen stimuliere Delacroix eine „Streuung der Aufmerksamkeit, ein schweifendes, auf die peripheren Bildpartien hinlenkendes Sehen und eine zeitliche Dehnung der Wahrnehmung“. Seine Ästhetik sei geradezu programmatisch darauf ausgerichtet, die Empfindungen des Betrachters zu verstärken und zu verlängern – mit allen Mitteln!
Um einen Prozeß intensiven Sehens und Nachdenkens einzuleiten und somit einen „Denkraum der Besonnenheit“ – ein Begriff des Hamburger Kulturwissenschaftler Aby Warburg Warburg (1866–1929) – zu eröffnen, der den Kunstfreund und den Bürger dazu erzieht, vielschichtige Realitäten nicht in manichäische Schablonen von Gut und Böse oder andere „alternativlose“ Verengungen des Sagbaren zu pressen. Was im digitalen Zeitalter dramatisch verkürzter Aufmerksamkeitsspannen und rasant beschleunigter Kommunikation nicht der schlechteste Beitrag der Kunstwissenschaft zur Verbesserung der deutschen Debattenkultur wäre.