Bei den deutschen Waffenschmieden gilt der seit Ende Februar 2022 tobende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine als entscheidender rüstungsökonomischer Wachstumsmotor. Die Schwergewichte der Verteidigungsbranche, darunter der Düsseldorfer Konzern Rheinmetall oder der bayerische Lenkflugkörper-Hersteller MBDA, erwarten aufgrund der nahezu exorbitant gestiegenen staatlichen Nachfrage für Wehrmaterial einen wirtschaftlichen Superzyklus.
Branchenschätzungen zufolge bergen die Auftragsvergaben des Bundes zur Aufrüstung der deutschen Streitkräfte bis zum Jahr 2030 ein Gesamtauftragsvolumen von rund 300 Milliarden Euro. Eine extrem profitable Potentialanalyse, die vor allem den rüstungsstrategischen Versäumnissen der letzten 30 Jahre geschuldet ist. Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge habe der deutsche Staat in den drei vorherigen Dekaden circa 400 Milliarden Euro zu wenig in die Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit der Bundeswehr investiert.
Entsprechend innovationshemmend habe sich auch die mittelfristige Finanzierung des Wehretats ausgewirkt, die erst seit 2022 ein jährliches Verteidigungsbudget von über 50 Milliarden Euro ausweist. Erschwerend komme laut der DIW-Analyse hinzu, daß das Wehrressort seither circa 16 Prozent des Verteidigungshaushalts, des Einzelplans 14, in neue Waffensysteme investiert habe – ganz entgegen den Nato-Vorgaben, die einen Anteil von 20 Prozent vorsehen. So entfalte auch das vor drei Jahren euphemistisch als Hundert-Milliarden-Euro-Bundeswehr-Sondervermögen beschlossene Finanzierungspaket nur eine begrenzte rüstungsstrategische Wirkung.
Der „Bundeswehr-Wumms“ ist nicht so stark wie behauptet
Vor allem, weil die staatsschuldenfinanzierten „Kriegskredite“ der vergangenen Ampel-Ära vorrangig die offen klaffenden Strukturlöcher und Fähigkeitslücken bei den Großwaffensystemen schließen sollen, die die Rotstiftpolitik der Merkel-Kabinette unter den Unions-Verteidigungsministern zu Guttenberg und de Maizière hinterlassen haben.
Tatsächlich dient die als Sondervermögen deklarierte Finanzspritze lediglich als Anschubfinanzierung, um die gravierendsten Defizite im maroden System Bundeswehr zu stopfen, so der Nationale Rüstungsdirektor im Verteidigungsministerium, Vizeadmiral Carsten Stawitzki. Der im Comic-Sprech des ehemaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) ausgerufene „Bundeswehr-Wumms“, der von dem Sondervermögen ausgehe, ist staatshaushälterisch weitaus begrenzter als allgemeinhin bekannt. So verfügt die Finanzspritze, die den Weg zu Deutschlands materieller Kriegstüchtigkeit ebnen soll, lediglich über 81 Milliarden Euro an wertschöpfender Kaufkraft. Denn daß in das Finanzierungspaket der 19prozentige Mehrwertsteueranteil einfließt, findet in der öffentlichen Kommunikation keine bis wenig Beachtung.
Der Einkaufspreis ist enorm gestiegen
Zudem warnte der Bundesrechnungshof schon beizeiten, daß die plakative Kaufkraftwirkung des hundert Milliarden Euro schweren Beschaffungspakets weder inflations- noch konjunkturbereinigt ausgewiesen sei. Konkret fehle es auf seiten der Führungsriege des Berliner Bendlerblocks bei der finanziellen Veranschlagung bedeutsamer Rüstungsgroßprojekte an der mittel- bis langfristigen Einpreisung der – auch vom Ukrainekrieg beeinflußten – Inflationsrate sowie an der konjunkturellen Berücksichtigung der Energie- und Lieferkettenproblematik.
Letztere habe in den vergangenen vier Jahren zu einem rekordverdächtigen Anstieg von 45 Prozent bei den Erzeugerpreisen geführt. Das habe das Verteidigungsministerium allerdings nicht bei seiner Kostenkalkulation berücksichtigt, moniert der Bundesrechnungshof.
Und so prognostizieren die obersten Staatsfinanzkontrolleure, daß sich die Kaufkraft des Streitkräfte-Sondervermögens bis zum Auslaufen um das Jahr 2027 herum unter vorsichtiger Zugrundelegung der Inflations- und Gesamtkonjunkturentwicklung zwischen 60 und 65 Milliarden Euro einpendeln dürfte, sollten sich keine unvorhersehbaren Preistreibereffekte entfalten. Die Finanzierungssituation verschärfend kommt nach derzeitiger Wehretatplanung entstehende Bedarfslücke von 45 Milliarden Euro hinzu, sollte es im Verteidigungshaushalt für 2028 beim linearen Einfrieren von rund 52 Milliarden Euro bleiben. Und dies, obwohl Militärökonomen den realistischen Wehretatbedarf für 2028 mit 97 Milliarden Euro beziffern.
Militärökonomen schlagen Alarm
Doch nicht nur die mehrwertsteuerbereinigte Kaufkraftschrumpfung wirkt sich derzeit dämpfend auf die um 2022 entfachte Goldgräberstimmung in der Rüstungsbranche aus. Gebremst werden die optimistischen Erwartungen auch durch die noch immer nicht rüstungspolitisch optimierten Priorisierungen und Rahmenbedingungen, unter denen die Rüstungskonzerne sowie deren Zulieferer, zumeist Kleinere und Mittlere Wehrtechnik-Unternehmen, bisweilen produzieren müssen.
So könnten Massenfertigungslinien, die große Stückzahlen an Waffensystemen und großvolumige Munitionsbestände herstellen, unternehmerisch nur dann vorgehalten werden, wenn der Kapazitätsaufwuchs auch durch rüstungsstrategische Langfristperspektiven staatlich abgestützt werde. So jedenfalls fordert es der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) in seinem im vergangenen Herbst veröffentlichten Initiativpapier „Verteidigung braucht Resilienzwirtschaft“.
Denn bleibe es bei der derzeitigen vertraglichen Beauftragungspraxis von Kleinserien bei verteidigungswichtigem Großgerät, blieben die jährlichen Fertigungsraten weiterhin in einem produktionstechnischen Nadelöhr stecken, was den Aufrüstungsprozeß weiterhin erheblich verzögere, wie Militärökonomen warnen.
BDSV fordert „Verteidigungsplanungsgesetz“
Um den für den kriegstüchtigen Aufwuchs der Bundeswehr erforderlichen Kapazitätsausbau nachhaltig zu forcieren, benötigten die Produzenten – vom weltweit auf dem Rüstungsmarkt agierenden Konzern bis zu den kleinen und mittelständischen Herstellern von Rüstungsgütern – staatliche Planbarkeitszusagen von mindestens sieben Jahren, um stabile Zulieferer- und Produktionsketten zu garantieren. Für den Raketenkonzern MBDA beispielsweise stellt die gestiegene Staatsnachfrage nach Rüstungsgütern eine beträchtliche Vorfinanzierungs- und Risikoherausforderung dar. In anlaufenden und technologisch hochkomplexen Fertigungsprozessen ginge es letztendlich darum, daß die Zuliefererketten für die beauftragten Beschaffungszyklen über eine vorausschauende Rohstoffversorgung verfügten.
So fordert der BDSV unter strenger Anlegung verteidigungspolitischer Kriterien die rüstungsindustriepolitische Schaffung einer wehrtechnologischen Basis für zwingend erforderliche Rohstoffe und sogenannte Vormaterialien, die zukünftig auf auslandsunabhängigen Vorsorgevorräten – insbesondere mit beispielsweisem Blick auf Kobalt, Lithium und seltene Erden – beruhen soll, um für Krisenlagen wie Kriegsszenarien auf nationaler Ebene durchhaltefähig gewappnet zu sein.
Weil die deutsche Rüstungsindustrie traditionell privatunternehmerisch organisiert ist, schlägt das BDSV-Resilienzkonzept die kommende Verabschiedung eines „Verteidigungsplanungsgesetzes“ vor, das eine mehrjährige Bindungsverpflichtung für deutlich höhere Verteidigungsausgaben zum Inhalt hat. Nur durch eine partnerschaftliche Risikolastenverteilung zwischen Staat und Rüstungsproduzenten sei die Schaffung eines entschlossenen Kapazitätsausbaus durch die Rüstungsindustrie und Verteidigungswirtschaft möglich, so das BDSV-Papier weiter.
Die Politik soll die Fähigkeitsanforderungen entschlacken
Einen weiteren Eckpfeiler zur Beschleunigung von Beschaffungsprozessen erblickt der BDSV in der konsequenten Entschlackung „Finaler Funktionaler Fähigkeitsforderungen“ durch das Bundesamt für Beschaffung, Informationstechnologie und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw). Statt kleinteiliger Fähigkeitsanforderungen solle das Koblenzer Bundeswehr-Beschaffungsamt zukünftig auf die konsequente Vereinfachung bei der Definition des Bedarfs von Waffensystemen der jeweiligen Teilstreitkräfte setzen, was die Produktion von Rüstungsgütern wesentlich erleichtern würde.
Solche Schritte eröffneten der Industrie Möglichkeiten, um wesentlich dynamischer und innovativer auf waffensystemspezifische Herausforderungen reagieren zu können. Um eine zügige Erzielung von Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit zu erreichen, rät BDSV-Hauptgeschäftsführer Hans Christoph Atzpodien zu einer „Nationalen Initiative für Resilienzwirtschaft“, die parallel zu den gesamtstaatlichen Verteidigungsanstrengungen auch vehement den rüstungsindustriellen Kapazitätshochlauf beschleunigen dürfte, so Atzpodiens Fazit im BDSV-Papier.
Dies ist der vierte Teil einer in loser Folge erscheinenden Serie der JUNGEN FREIHEIT über die Beschaffungsprobleme der Bundeswehr.