Es gibt neuerdings eine Tendenz der Zeitgeschichtsforschung, sich intensiver mit den 1970er und 1980er Jahren zu befassen. Die Distanz zu diesem Abschnitt der Vergangenheit ist mittlerweile so groß, daß er mit den Methoden der Historiographie erfaßt werden kann. Grundsätzlich begrüßen wird man in dem Zusammenhang auch die Beschäftigung mit der Entwicklung des Konservatismus oder allgemeiner der politischen Rechten der Bundesrepublik. Eine der jüngsten Veröffentlichungen zu diesem Thema ist ein Aufsatz von Josefine Preißler, den die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (4/2024) unter dem Titel „Ein Stachel im Fleisch der Christdemokraten. Hans Filbinger, Günter Rohrmoser und das Studienzentrum Weikersheim 1979 bis 1985“ veröffentlicht haben.
Die Arbeit beschäftigt sich eingehend mit Entstehung und Tätigkeit des Studienzentrums Weikersheim (SZW), das 1979 durch den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger und den an der Universität Hohenheim lehrenden Sozialphilosophen Günter Rohrmoser gegründet wurde. Eine Ursache für diesen Schritt war der Sturz Filbingers wegen der von dem Schriftsteller Rolf Hochhuth gegen ihn als „furchtbaren Juristen“ lancierten Kampagne, eine andere die wachsende Beunruhigung von Denkern wie Rohrmoser darüber, daß sich trotz der Verheerungen, die die linke Kulturrevolution angerichtet hatte und trotz des offensichtlichen Scheiterns der sozialliberalen Koalition keine „Wende“ abzeichnete.
Das Ziel des SZW war es deshalb, die „Orientierungskrise“, die „die Renaissance des Marxismus“ noch verschärft hatte, mittels einer „geistig-ethischen Erneuerung aus der Kraft unseres christlichen Ursprungs“ zu überwinden. Josefine Preißler zeichnet in ihrem Aufsatz nach, welche Maßnahmen Filbinger und Rohrmoser zu diesem Zweck eingeleitet haben. So gelang es ihnen in relativ kurzer Zeit, eine Struktur für das SZW zu schaffen, eine verhältnismäßig breite Unterstützung in bürgerlichen Kreisen – vor allem soweit sie den Unionsparteien nahestanden – zu sichern und mehrere Jahreskongresse mit renommierten Referenten durchzuführen, die in der Öffentlichkeit durchaus wahrgenommen, wenngleich häufig polemisch kommentiert wurden
Gedanken über neue Partei als Beweis für Radikalisierung
Allerdings zeigten sich rasch die Grenzen des Projekts. Zutreffend ist deshalb die Einschätzung Josefine Preißlers, daß der Plan Filbingers und Rohrmosers, nach angelsächsischem Vorbild einen Thinktank aufzubauen und dann eine „blaue Revolution“ in Gang zu setzen, die dem entsprach, was in den USA Ronald Reagan und in Großbritannien Margaret Thatcher zustande gebracht hatten, scheitern mußte. Einer der Hauptgründe dafür war die bleibende Distanz der Unionsspitzen. Die hatte in der CDU mit dem Modernisierungskurs Helmut Kohls zu tun, der konservative Inhalte nur als Altlasten betrachtete, die man möglichst schnell loswerden müsse, während in der CSU den Ausschlag gab, daß Franz Josef Strauß eine Monopolstellung als Kopf der innerparteilichen Opposition von rechts verteidigen wollte.
Es dauerte geraume Zeit, bis Filbinger, Rohrmoser und die übrigen Protagonisten des SZW begriffen, daß auf die größte bürgerliche Kraft nicht zu rechnen war; Versuche, mit der FDP in Kontakt zu treten, hatten sich von Anfang an als aussichtslos erwiesen. Wenn Josefine Preißler den daraus resultierenden Entschluß, sich immer weniger an der Parteiräson zu orientieren und halblaut über die Notwendigkeit einer neuen konservativen Partei nachzudenken, als Beweis für einen Radikalisierungsprozeß wertet, zeugt das allerdings von einem bedauerlichen Maß an Urteilsvermögen.
Preißler nahm Weikersheim-Analysen nicht ernst
Der zeigt sich auch an anderen Stellen. Dadurch wird die von der Verfasserin geleistete Auswertung der Quellen (leider nicht der im Nachlaß Rohrmosers vorhandenen, die die Bibliothek des Konservatismus in Berlin verwahrt) und die Erarbeitung einer Chronologie nicht vollständig entwertet, aber es bleibt doch ein Unbehagen. Das hat im wesentlichen zwei Ursachen: den Opportunismus oder die Naivität, mit der die Autorin die Wertungen jener übernimmt, die zu den Gegnern des Projekts SZW gehörten, und – davon nicht unabhängig – die Bereitschaft, der durch Armin Pfahl-Traughber in Umlauf gebrachten These von der „Scharnierfunktion“ zwischen einem – demokratischen – Konservatismus und einer – extremistischen – Neuen Rechten aufzusitzen.
So wird von Josefine Preißler brav nachgebetet, was die „kritische“ Öffentlichkeit gegen Weikersheim vorgetragen hat, ohne auch nur einmal die Frage zu stellen, ob deren Einschätzungen sachlich begründet waren. An keiner Stelle gewinnt man den Eindruck, daß die Analysen zum Beispiel Rohrmosers in Bezug auf die fatalen Wirkungen der Frankfurter Schule, die systematische Schwächung des Staates, die Konsequenzen der Bildungsreform oder die Zerstörung der abendländischen Überlieferung ernstgenommen werden.
Stattdessen konfrontiert Josefine Preißler den Leser mit naseweisen Bemerkungen darüber, daß ihr schon eine Bezugnahme auf Gramsci oder der Verweis auf ein Zitat Sorels (das eigentlich von Ernest Renan stammt) verdächtig erscheinen. Alles übrige erledigt die Kontaktschuld: „Indem das SZW sowohl Vertreter des Konservatismus als auch der Neuen Rechten auf seinem Kongreß zusammenkommen ließ, trug es dazu bei, die Grenzen zwischen diesen beiden Lagern verschwimmen zu lassen.“
Strategische Lage im „geistigen Bürgerkrieg“ falsch eingeschätzt
Wahrscheinlich genügt zur Erklärung dieser Mängel, festzuhalten, daß sich junge Wissenschaftler heutzutage besser eng an das zu halten pflegen, was historisch-korrekt ist, jeden „Revisionismus“ sorgsam zu meiden und besser keinen genaueren Blick auf die politische wie die Geistesgeschichte der späten Bundesrepublik zu werfen, der nur zu Irritationen führen könnte. Denn hätte eine solche Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen, unter denen das SZW gearbeitet hat, stattgefunden, wären andere als die von Josefine Preißler vorgetragenen Wertungen zwangsläufig die Folge.
Das betrifft vor allem die Entwicklung der intellektuellen Rechten nach ’68, der Schritte, in denen sich die Emanzipation von der CDU vollzog, die Bedeutung der Impulse, die aus der Nachrüstungsdebatte und dem neuen Interesse an der nationalen Identität auf der Gegenseite folgten, der Fraktionierungen, der Einflußverluste im etablierten Bereich wie der Zugewinne durch die Konvertiten, von denen hier wenigstens Bernard Willms in Erscheinung tritt.
Unbeschadet dessen wird man festhalten müssen, daß die Idee der Weikersheimer, man könne die Linksverschiebung des Meinungsspektrums nicht nur stoppen, sondern umkehren, auf einer Fehleinschätzung beruhte. Obwohl sie sich in einem „geistigen Bürgerkrieg“ sahen, ignorierten sie die strategische Lage, die davon bestimmt war, daß die intellektuelle Linke ihre Meinungsmacht etabliert hatte und die bürgerliche Mitte sich unbedingt arrangieren wollte. Was auch dazu führte, daß derjenige, der – wie etwa Armin Mohler – vorgestern noch als honoriger Konservativer galt, gestern schon in den Ruch des Neofaschismus geraten war, in der Gegenwart als veritabler Nazi galt, und – wenn man diesen Vorwurf als zu platt empfindet – mit dem Wieselwort „Neue Rechte“ etikettiert wird, um ihn unmöglich zu machen.