Menschen dürfen alles meinen, auch wenn sie nicht alles sagen dürfen, was sie meinen: Sie dürfen meinen, daß der Wirtschaftsminister ein ahnungsloser Dummkopf ist, aber sagen dürfen sie es nicht, weil das eine Beleidigung ist oder jedenfalls sein könnte. Meinen und aber auch sagen dürfen sie, daß es biologisch gesehen nur zwei Geschlechter gibt; daß es taxonomisch sinnvoll ist, menschliche Rassen zu unterscheiden; daß Gendern der Geschichte und Struktur der deutschen Sprache widerspricht; daß es relativ gesehen mehr ausländische Straftäter gibt als deutsche; daß das Recht auf Erbschaft abgeschafft oder stark eingeschränkt werden sollte; daß die DDR kein Unrechtsstaat war; oder daß Israel ein Apartheidstaat ist, der im Gazastreifen einen Genozid begeht.
Solche Meinungen müssen nicht wahr sein, damit man sie äußern darf, und sie müssen nicht einmal gut begründet sein. Man kann sie einfach so haben, solange sie strafrechtlich irrelevant sind und keinen direkten Angriff auf die Verfassung beinhalten oder fordern. Das nennt man Meinungsfreiheit.
Solche Meinungen dürfen auch Wissenschaftler haben, solange sie aus der Wissenschaft erwachsen und von ihnen als Wissenschaftler erforscht und gelehrt werden; sie müssen nicht wahr, aber sie müssen wissenschaftlich begründet sein. Eine Mathematikerin hat sich im Hörsaal nicht zum Gaza-Krieg zu äußern; ein Philosoph, der sich mit der Theorie des gerechten Krieges befaßt, darf das sehr wohl. Das steht außer Frage, so wie es rechtlich gesehen außer Frage steht, daß man Thilo Sarrazin oder Peter Singer zu Vorträgen einladen oder ein Seminar zu der Frage abhalten darf, ob Boykottmaßnahmen gegen den israelischen Staat legitim sein können.
Die Universität muß dem akademischen Mob Einhalt gebieten
Das Recht zu solchen Positionen und wissenschaftlichen Aktivitäten ergibt sich aus Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes. Denn Wissenschaftsfreiheit umfaßt als Individualrecht ohne Gesetzesvorbehalt die Freiheit einzelner Subjekte oder Forschungsgemeinschaften in bezug auf Forschungsgegenstände beziehungsweise Forschungsziele und Forschungsmethoden, und dies sowohl (vor allem) als Abwehrrecht wie auch als Recht auf etwas (Forschungsmittel), und sie umfaßt zugleich die Freiheit der Lehre. Dieses Recht ist außerdem ein Anspruchsrecht auf Schutz. Wenn der akademische Mob versucht, Bernd Lucke bei seiner Vorlesung oder Daphne Barak-Erez bei ihrem Vortrag zu stören, dann muß die Universität das unterbinden.
Niemand bestreitet, daß dieses Recht auf freie Wissenschaft Grenzen hat, und zwar positivrechtliche, moralische und wissenschaftsmethodische Grenzen. So erwähnt Art. 5 Absatz 3 GG die „Treue zur Verfassung“, und auch für die Wissenschaftsfreiheit gibt es strafrechtliche Grenzen (Beleidigung, Volksverhetzung, Embryonenforschung); es gibt moralische Grenzen, die nicht rechtlich kodifiziert sind oder jedenfalls nicht so, daß sie bestimmte Handlungen verbieten (z. B. Tierversuche); und es gibt wissenschaftsmethodische Grenzen ‒ sie vor allem sind es, die Wissenschaftsfreiheit von Meinungsfreiheit zu unterscheiden erlauben ‒, die durch die Praxis der Wissenschaften selbst gesetzt werden (Astronomie ist eine Wissenschaft, Astrologie nicht) und zu denen man auch die akademische Tugendhaftigkeit und Regeln der „good scientific practice“ rechnen kann.
Dekane und Rektoren sind sich nicht zu schade, Vorträge zu streichen
All das ist klar und eindeutig. Aber warum gibt es dann den Streit, der seit einiger Zeit unter dem Stichwort der (akademischen) Cancel Culture geführt wird? Die einfache Antwort lautet: Weil es akademische Amtsträger, Aktivisten und auch Politiker oder Parteien gibt, die das Recht auf Wissenschaftsfreiheit nicht akzeptieren oder sich so zurechtlegen, wie es ihnen paßt. Genau das wiederum wird oft bestritten; es gäbe bestenfalls nur Anekdoten, keine belastbare Evidenz. Aber das ist offenkundiger Unfug oder schlichtweg verlogen (auch wenn man über die Frage diskutieren kann, ob die unbestreitbaren Fälle bereits eine Kultur des Cancelns manifestieren).
Es gibt Dekane und Rektoren, die sich nicht zu schade sind, selbst Vorträge oder andere Veranstaltungen an der Universität abzusagen oder die es jedenfalls versuchen, und auch jene Führungskräfte, die nicht den Mumm aufbringen, das freiheitszerstörende Tun des akademischen Mobs zu verhindern.
Vorwurf der „Moralisierung“ trifft nicht zu
Das Bestreben, Wissenschaftler akademisch durch Niederbrüllen, „de-platforming“, Haß und Hetze, Disziplinarverfahren und sogar Morddrohungen aus der akademischen Welt zu verbannen, ist also manifest. Aber es ist nicht grundlos. Denn man sollte die akademische Cancel Culture als den Versuch verstehen, die moralischen Grenzen enger zu ziehen. Es wird geltend gemacht, daß Menschen ihr Recht auf freie Forschung und Lehre verwirken, wenn sie rassistisch seien oder auch antisemitisch, xenophob, islamophob und so weiter.
Die typische Reaktion auf diese Positionierung besteht in dem Vorwurf der „Moralisierung“. Aber das ist irreführend. In der Tat sind die allermeisten der mit den Ismen und Phobien verbundenen Vorwürfe durchaus berechtigt, wenn man sie (diese Ismen und Phobien) denn angemessen definiert und im Einzelfall vernünftig unter sie subsumiert.
Das Anwachsen der moralischen Sphären
Das Problem ist also nicht oder jedenfalls nicht per se eine grassierend inflationäre Moralisierung, die alle Lebensbereiche umfasse und die alles verbieten wolle, was nicht politisch korrekt sei; denn was politisch nicht korrekt ist, oder besser gesagt: moralisch nicht erlaubt ist, das ist es eben nicht, und das bildet auch zu Recht Grenzen der Wissenschaftsfreiheit.
Man kann es also oder sollte es vielleicht sogar als moralischen Fortschritt begreifen, daß mehr (und mehr) Bereiche als moralische Sphären erfaßt werden. Denn wenn jemand tatsächlich rassistisch oder homophob ist, hat man einen sehr guten, nämlich einen moralischen Grund zur Kritik und gegebenenfalls auch zur legitimen Begrenzung.
Das Problem heißt Dogmatismus
Die bloße Tatsache, daß wir heute mehr Handlungen für moralisch verwerflich oder auch erlaubt halten als früher, ist also nicht Resultat einer Hypermoral, sondern Ausdruck moralischen Fortschritts: Aristoteles hatte kein Problem mit der Sklaverei, wir (fast alle) schon; Kant hatte ein Problem mit Homosexualität, wir (oder jedenfalls viele von uns) nicht. Das kritikwürdige Phänomen ist also nicht eine inflationäre Moralisierung. Das Problem sind die – oft mit theoretisch-begrifflicher Ungenauigkeit verbundene – Voreiligkeit, der beanspruchte Infallibilismus, der Dogmatismus und vor allem der Mangel an Urteilskraft, die mit der Feststellung einhergehen, dieses oder jenes sei als dieser Ismus oder jene Phobie moralisch verwerflich.
Wer schon die Aussage „Das Kopftuch ist ein Zeichen für Unterdrückung“ für diskriminierend und menschenverachtend hält, die Aussage, daß es biologisch gesehen nur zwei Geschlechter gibt, für transphob, oder die Aussage, daß es jenseits der Staatsangehörigkeit noch einen kulturellen Begriff des Volkes gibt, für rassistisch, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, solche Begriffe (Menschenverachtung, Transphobie, Rassismus) völlig zu überdehnen.
Wissenschaftsfreiheit gilt für alle oder niemanden
Diese Überdehnung geht Hand in Hand mit der epistemischen Arroganz ihrer Advokaten. Sie haben den Hang, ihre eigene Meinung bezüglich einer de facto umstrittenen und mit gegenläufigen Evidenzen verknüpften Sachfrage mit einem hohen Grad an subjektiver Gewißheit zu hegen, verbunden mit der Überzeugung, es besser zu wissen als andere Subjekte, die eine andere Meinung haben ‒ eine Gewißheit und Überzeugung, welche die Bereitschaft schmälern oder verhindern, andere Meinungen als diskussionswürdig anzuerkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Das bedeutet natürlich nicht, daß diejenigen, die aus ihren Wissenschaften heraus moralisch oder politisch so denken und argumentieren (etwa in weiten Teilen die Gender Studies oder der Postkolonialismus), nun ihrerseits wiederum in ihrer Wissenschaftsfreiheit beschränkt werden dürfen. Wer sich konsistent und ernsthaft für die Wissenschaftsfreiheit einsetzt, muß sich für die Wissenschaftsfreiheit aller Wissenschaftler einsetzen.
Auch die Rechte cancelt
Nun ist es zwar wahr, daß Fälle, die etwa das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fortlaufend dokumentiert, ganz überwiegend Fälle sind, bei denen die Cancel-Versuche von links ausgehen. Das ist kein Zufall, sondern liegt daran, daß zumindest an einigen Fakultäten oder Fächern und erst recht bei den studentischen Vertretern linke Positionen gegenwärtig vorherrschend sind (zwar bestreiten Linke das immer wieder, aber dieses Manöver ist zu durchsichtig, um ernst genommen zu werden.) Doch die Feinde der Freiheit sitzen nicht nur im linken Lager. Zwar sind es gerade auch die Rechten, die sich lautstark über die Cancel Culture, politische Korrektheit, Meinungs- und Denkverbote aufregen und beschweren. Aber es kann keinen Zweifel daran geben, daß viele rechte Akteure keine Bedenken hätten oder haben, die Freiheit linker Denker einzuschränken.
Einzelne AfD-Politiker haben bekanntlich linke Wissenschaftler öffentlich diffamiert (ich erinnere an die Angriffe von AfD-Politikern auf Maisha-Maureen Auma, Professorin für Diversity Studies an der Hochschule Magdeburg-Stendal, und Jürgen Zimmerer, Historiker an der Uni Hamburg). Als ich vor einigen Monaten bei einer Podiumsdiskussion in kritischer Absicht darauf hinwies, daß die AfD, wäre sie mit einer Zweidrittelmehrheit an der Macht, vermutlich die Gender Studies in Deutschland ganz abschaffen würde, gab es aus dem ganz überwiegend rechtskonservativen Publikum tosenden Applaus. Und zwar nicht für meine Kritik daran, sondern für eine solche imaginierte Maßnahme.
Aber die wissenschaftlichen Gemeinschaften und Disziplinen, und nur sie allein, haben darüber zu entscheiden, was Wissenschaft ist. Das wiederum schließt nicht aus, daß man mit wissenschaftlichen Argumenten Positionen und Theorien einer Wissenschaft oder gar eine ganze Wissenschaft kritisieren darf; aber sie zu kritisieren ist etwas ganz anders, als sie zu canceln.
Kritik ist eine Sache, Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit eine andere
Eben diesen ganz einfachen Punkt verstehen viele woke Akteure bis heute nicht. Denn es gehört zu den Standard-einwänden gegen eine liberale Auffassung von Wissenschaftsfreiheit, daß sie berechtige Kritik mit (angeblichen) Verletzungen von Wissenschaftsfreiheit verwechsle. Kritik und Widerspruch seien auszuhalten und nicht als Cancel Culture zu diffamieren ‒ was häufig genug, so das Argument, den wahren Zweck habe, sich gegen berechtigte Kritik vor allem marginalisierter Gruppen zu immunisieren. Aber Kritik ist für die Wissenschaft eine Conditio sine qua non. In jeder Wissenschaft werden Hypothesen, Thesen und Theorien entwickelt, um Dinge zu erklären oder zu verstehen. Sie werden nicht nur ständig kritisiert, sie müssen auch kritisiert werden dürfen; niemand bestreitet das (und selbstverständlich auch nicht das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit).
Kritik ist also eine Sache, Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit sind eine andere, und auch wenn nicht immer klar ist, wo die Grenze liegt, so ist sie doch in den allermeisten Fällen, die zur Diskussion stehen, eindeutig. Wer kritisiert, nimmt mit Thesen und Argumenten an einer Debatte teil, wer akademisch verbannt, will diese Debatte gerade verhindern; an die Stelle von Austausch und Diskurs treten Einschüchterung, Mobbing, Bedrohung, Bestrafung, Ausgrenzung, Existenzgefährdung. Der aus der akademischen Verbannungskultur erwachsende Versuch, die Rede einer Person auch an einer Universität effektiv zu verhindern, ist ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Kritik und Protest sind dagegen selbst Element und Praxis dieser Freiheit, auch wenn sie sehr scharf oder polemisch ausfallen.
Angriff auf die Demokratie
Die Freiheit von Wissenschaft und Lehre ist wieder einmal bedroht. Ihre Feinde kommen gegenwärtig ganz überwiegend aus der linken Orthodoxie und Universität selbst. Sie wollen die Macht, die sie bereits haben, weiter zementieren und ausbauen. Daraus erwächst nicht nur eine Gefahr für die Wissenschaften, deren Freiheit nicht zuletzt in der Fallibilität aller wissenschaftlichen Anstrengungen begründet ist (wer weiß, daß er falschliegen könnte, verbietet die Meinung des anderen nicht; sie könnte die richtige sein).
Sie ist auch eine Gefahr für die Demokratie. Denn aus der Freiheit von Wissenschaft und Lehre erwächst das Wissen, das Staatsbürger in Demokratien brauchen, um sich fundierte Meinungen für politische Präferenzen und Entscheidungen bilden zu können.
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Prof. Dr. Dieter Schönecker, Jahrgang 1965, lehrt Philosophie an der Universität Siegen und engagiert sich als Vertrauensdozent im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehört. Wissenschaftlich arbeitet er zu Kant und Alvin Platinga.