Der blaue Vogel bricht aus einem metallenen Käfig aus und fliegt davon. Er tut das nicht von alleine, er wird gelenkt. Auf seinem Federkleid sitzend reitet Elon Musk, die Zügel in der Hand, mit dem Tier in die Freiheit. Dieses Graffiti im schottischen Edinburgh sorgte Ende 2022 für Diskussionen im Internet. Der Künstler – ein anonym auftretender Schotte, der sich „The Rebel Bear“ („Der rebellische Bär“) nennt – bekam von seinen eigenen Fans dafür nicht nur Zustimmung. Wie er es unterstützen könne, daß die ganzen „Verrückten und Kranken“ zurück auf der Plattform seien, fragte ein Nutzer auf Instagram.
Denn der „Bär“ ist, wie fast alle Graffiti-Künstler, kein Konservativer. Seine anderen Bilder zeigen Ex-US-Präsident Donald Trump als grimmig dreinblickendes Kleinkind, das eine Mauer aus Legosteinen baut oder mehrere Tiere, die Protestschilder hochhalten. „Lang lebe der Lockdown“ und „Laßt die Menschen eingesperrt“, steht darauf geschrieben. Zumindest beim Thema Meinungsfreiheit im Internet tanzt der rebellische Bär jedoch aus der Reihe der politisch konformistischen Graffiti-Szene.
Was heute eine weltweit florierende Industrie ist mit Fachgeschäften für Sprühdosen und Lackstifte, eigenen Szeneklamotten sowie Ausstellungen und Messen, fing vor mehr als 50 Jahren ganz klein an. Im New York der späten 1960er Jahre fingen junge Leute in sozialschwachen Gegenden wie der Bronx an, selbstgewählte Künstlernamen auf Wände im öffentlichen Raum zu schreiben. Am Anfang waren das lediglich kleine Schmierereien mit einem Stift – sogenannte Tags –, doch schnell wurde es weiterentwickelt zu den verschlungenen und bunten Buchstaben, die man heute kennt.
Patriotische Prägung in Osteuropa
Ab den 1970ern wurde das Phänomen Graffiti erstmals einem größeren Publikum bekannt, losgetreten durch die Medien. Am 21. Juli 1971 berichtete die New York Times darüber, daß überall in der Stadt der Schriftzug „TAKI 183“ auftauchte. Das inspirierte Nachahmer, immer mehr „Tags“ tauchten in der Stadt auf.
Einer der Pioniere der bunten Graffiti, des sogenannten „Stylewritings“, ist der New Yorker Künstler „Dondi“. Ob er wirklich der erste war, der einen Zug mit bunten Buchstaben besprühte, ist unklar – aber er war definitiv einer der ersten und zugleich einer der wenigen, die es von den hermetisch bewachten U-Bahnschächten New Yorks in die renommierten Kunstgalerien der Welt schaffte. 2018, mehr als 20 Jahre nach seinem Tod, wurde eines seiner Bilder bei einer Auktion für 240.000 US-Dollar versteigert.
Ab 1982 wurde die Straßenkunst zunehmend zu einem globalen Phänomen, vor allem durch den großen Erfolg des Films „Wild Style“, der sich mit der New Yorker Szene beschäftigte. Wie ein Jahrzehnt zuvor der New York Times-Artikel über „TAKI 183“ rief der Film viele Nachahmer auf den Plan. Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es in der Bundesrepublik eine Graffiti-Szene, nach dem Fall der Mauer breitete sich die Bewegung zunehmend in die ehemaligen Staaten des Ostblocks aus. Dort sind Wandbilder – wie die HipHop-Kultur insgesamt – heute oftmals patriotisch konnotiert.
„Das ist nicht unser Krieg“
Wie bei den meisten Subkulturen gilt für Graffiti-Künstler ein selbstgewählter Ehrenkodex. Private Autos von Bürgern sind tabu, Denkmäler und Gotteshäuser um so mehr. Wer das mißachtet, verliert den Respekt der Kollegen und gilt als exkommuniziert. Hinter den bei Zeiten simpel anmutenden Buchstaben steckt ein aufwendiges Kunsthandwerk, Proportionen machen den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Bild. Kontraste zwischen runden Schwüngen und eckigen Kanten müssen sauber komponiert sein, Buchstaben sollten etwa gleich groß sein, Abstände und Farbharmonien müssen beachtet werden.
Politische Botschaften sind selten, doch es gibt sie. Zu Anfang des Ukrainekrieges tauchte überall in Berlin der Spruch „Das ist nicht unser Krieg“ auf. Bis heute ist der Urheber unbekannt. Doch die sauberen, gleichförmigen und auf die Größe des jeweiligen Hintergrunds angepaßten Buchstaben lassen vermuten, daß hier kein Anfänger zur Dose gegriffen hat.
Ultra-Graffiti um Territorien abzustecken
Bereits Anfang der 1980er Jahre übersäten Fußballfans des kroatischen Vereins Hajduk Split die Stadt mit Parolen wie „Allen Kroaten ein frohes Weihnachtsfest“ und „Tod dem Kommunismus“, was zu Haftstrafen führte. Ultra-Graffiti zur Absteckung eines „Vereinsterritoriums“ sind mittlerweile in ganz Europa verbreitet.
Um so bedauerlicher, daß die heutige Szene so obrigkeitshörig ist. Der wohl bekannteste lebende Graffiti-Künstler „Banksy“ verkauft seine Werke für Millionen und das mit einer Botschaft, die sich von den Inhalten der „Tagesschau“ nicht unterscheiden läßt. Bitte tragt Corona-Masken, unterstützt die Schlepperei übers Mittelmeer und fürchtet euch vor dem Antichristen Donald Trump. Um so erfrischender, daß der „Rebel Bear“ aus Schottland zumindest bei einigen Themen aus der Reihe tanzt.