Die Welt hat die Corona-Krise überstanden und ist 2022 direkt danach in den Ukraine-Krieg geraten. In Deutschland herrscht Inflation, Preise verteuern sich; dazu kommen Wohnungskrise, Migrationskrise, Energiekrise, die Wirtschaft sackt ab. Wie denken die Deutschen 2023 über die Situation im Land? Zu ihren größten Sorgen, Zuversichten und Bewältigungsmethoden hat das Meinungsforschungsinstitut Rheingold in Köln geforscht und eine Studie veröffentlicht.
Grundsätzlich zeige sich bei vielen Deutschen demnach eine diffuse Endzeitstimmung und ein Grundgefühl der Bedrohung. Die Krisenhaftigkeit und Ohnmachtsgefühle versuchten die Menschen aus ihrem Alltag zu verdrängen. Fast sechs von zehn Bundesbürgern (59 Prozent) fühlen sich angesichts der aktuellen Probleme überfordert. Als Reaktion ziehen sich immer mehr in ihr Privatleben zurück und mißtrauen der Politik.
„Die Erkenntnisse der Studie kann man als dramatisch bezeichnen“, sagte der Auftraggeber der Studie, der Vorsitzende der Düsseldorfer Identity Foundation, Paul J. Kohtes. „Eine tiefe Resignation gegenüber der Politik und unseren Zukunftsmöglichkeiten, wie sie sich hier zeigt, bedroht unser nationales Zusammenleben. Wir sehen zu, wie ein ganzes Land vor der Wirklichkeit in Deckung geht, während sich die Verantwortlichen in der Berliner Politik in klein-klein verheddern.“
Mehrheit vertraue der Politik nicht
Zwar sehen 86 Prozent der Befragten die Regierung in der Verantwortung dafür, Lösungen für alle aktuellen Herausforderungen zu finden; doch ist gleichzeitig die große Mehrheit enttäuscht von der Politik. 73 Prozent stimmten zu, daß die Parteien keine Ahnung hätten von dem, was sie tun; ebenso viele macht es „sehr wütend“, wie in Deutschland politisch gehandelt werde; und für 72 Prozent der Befragten mache sich die Politik keine großartigen Gedanken, was in den nächsten Jahren passiert.
„Vertrauen in die deutsche Regierung oder deren Politik“ haben laut der Studie nur 34 Prozent – zwei von drei Deutschen dagegen stimmen der Aussage „eher nicht“ oder „gar nicht“ zu. Auch gab mit 49 Prozent nur jeder Zweite an, auf das demokratische System in Deutschland mit Wahlrecht und zuverlässigem Rechtssystem zu vertrauen. Kohtes bemerkte zum Studienergebnis laut der Welt: „Das kann kein gesundes gesellschaftliches System sein.“
Trotz der Herausforderungen ist der Großteil der Deutschen von der Demokratie als System überzeugt: So gaben 83 Prozent an, daß die Demokratie die aktuellen Probleme noch am besten lösen könne, 17 Prozent verneinten die Aussage. Immerhin fast jeder Siebte (15 Prozent) könnte sich einen politischen Systemwechsel wie in die Anarchie oder eine Diktatur vorstellen – während 85 Prozent das nicht können.
Deutsche sorgen sich vor Inflation, Altersarmut und Klimawandel
Die Deutschen fürchten einen sozialen Klimawandel – sogar stärker als den globalen Klimawandel. Als Reaktion auf die gesellschaftliche Eiszeit ziehen sich die Deutschen stärker ins Private zurück. Viele fühlen sich hilflos und hoffen auf erlösende Technologien oder auf gewisse Parteien, die das Land von „Sündenböcken“ befreien sollen.
Die Inflation, Angst vor Altersarmut und dem Klimawandel sind aktuell die größten Sorgenfelder, gefolgt von bezahlbarem Wohnraum und der Energiekrise. Dennoch sehen immer noch mehr als die Hälfte (57 Prozent) den Klimawandel nicht unter den Top 5 der drängensten Krisen. „Viele sind zudem überzeugt, der vollen Wucht der Klimakrise doch noch entkommen zu können. Nach dem Motto: ‚Nach mir die Sintflut‘“, kommentieren die Studienautoren.
Eine große Mehrheit von 84 Prozent nimmt als „sozialen Klimawandel“ eine zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft wahr. Mit 79 Prozent sagen fast genauso viele, die Mitmenschlichkeit gehe verloren. Das Gefühl der gesellschaftlichen Spaltung durch politische Radikalisierung von links und rechts wachse weiter. Dennoch gehört ein „Rechtsruck“ in Deutschland oder Europa für 78 Prozent der Befragten nicht in die Top 5 der dringlichsten Probleme. Auch die gefühlte gesellschaftliche Spaltung gehört für 73 Prozent nicht zu den fünf drängendsten Problemen.
Resignation treibt Deutsche in eigene Welt zurück
69 Prozent der in der Studie Befragten bezweifeln, daß sich das Miteinander in Deutschland in den kommenden Jahren positiv entwickeln wird. Weitere 68 Prozent bezweifeln, daß sich für die meisten Probleme der Welt Lösungen finden lassen. Trotz dieser allgemeinen Krisenstimmung sind zwei Drittel (66 Prozent) der Deutschen zuversichtlich, daß sich ihr eigenes Leben mit Familie, Beruf, Freunden, Wohnen in den nächsten Jahren positiv entwickeln wird.
So gaben 40 Prozent an, sich von der Außenwelt zurückzuziehen und ihr Glück im Privaten zu suchen – wie der Familie oder den eigenen vier Wänden. Daraus folgerte der Psychologe und Rheingold-Chef Stephan Grünewald: „Den Deutschen gelingt die Maximierung ihrer Zuversicht durch die Minimierung ihres Gesichtskreises.“