Es ist mehr als zwei Jahrzehnte her, daß der Deutsche Bundestag die Rede Wladimir Putins und sein Angebot einer deutsch-russischen Partnerschaft mit stehenden Ovationen beantwortete – jetzt ist das Klima in einem Maße vergiftet wie nicht einmal in den Zeiten des früheren Kalten Krieges. Rußland gilt als Inkarnation des Bösen, Deutschland wurde praktisch zur Kriegspartei, ein Großteil der deutschen Medien stößt in das Horn der Kriegspropaganda.
Als wenige Tage vor dem Beginn der lange erwarteten ukrainischen Frühjahrsoffensive der Kachowka-Staudamm brach, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock umgehend, es gebe „nur einen Verantwortlichen“ für die Umweltkatastrophe. Die FAZ unterstellte Rußland „Vernichtungsphantasien“, die am Dnjepr Gestalt angenommen hätten.
Außen vor blieb dabei, daß auf der russisch besetzten Seite des Flusses weitaus größere Flächen überschwemmt wurden als auf der ukrainischen. Die Flut zerstörte die massiven russischen Verteidigungsstellungen. Zudem verliert die Krim mit dem Auslaufen des Stausees die Wasserversorgung, für die bisher ein Kanal sorgte, der bis in die Nähe des Staudamms führt.
Wird die Offensive erfolgreich sein?
Wie schon im Fall der Sprengung von Nordstream unterstellen westliche Medien den Russen irrationales Verhalten und Selbstbeschädigung. Wieder einmal wurde ukrainische Kriegspropaganda unbesehen übernommen. Plausibel hingegen ist die Annahme, daß frühere Kriegshandlungen den Damm so stark beschädigt und geschwächt hatten, daß er dem Druck des wegen starker Regenfälle extrem hohen Pegelstandes nicht mehr standhielt. Im vergangenen Jahr beschoß das ukrainische Militär den Staudamm, über den eine Straße und eine Eisenbahnlinie verlaufen, immer wieder mit Raketen. Und im Herbst sprengten russische Truppen einen Teil der Straße und der Schienen, als die ukrainischen Streitkräfte das Nordufer zurückeroberten.
In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob und an welchem Frontabschnitt die ukrainische Offensive erfolgreich sein könnte. Sie wurde überhaupt erst möglich, nachdem die Nato neun weitere ukrainische Kampfbrigaden ausgerüstet hatte, unter anderem mit etwa 50 deutschen Leopard-Panzern und mit amerikanischen Bradley-Schützenpanzern. Ein Teil von ihnen blieb bereits in den ersten Tagen des Vormarschs im russischen Feuer liegen.
Westliche Militärexperten nehmen an, daß die Ukraine versuchen wird, nach Melitopol und bis zum Asowschen Meer vorzustoßen und damit die russische Landverbindung zur Krim zu durchschneiden.
Gelingt all dies, wäre es eine Überraschung. In der Regel sollten offensive Streitkräfte den defensiven im Verhältnis drei zu eins überlegen sein. Weil die Russen das in der Anfangsphase des Krieges nicht waren, scheiterte der von Moskau geplante Blitzkrieg und blieb im Stellungskrieg stecken. Jetzt sind es die Ukrainer, gegen die das Kräfteverhältnis spricht. Abgesehen davon stellt sich die Frage, wie ein Land mit einer Bevölkerung, die schon vor Kriegsausbruch nicht einmal ein Drittel so groß war wie die des Gegners, einen Krieg gewinnen soll, in dem sich die russische Seite zudem auf eine weit überlegene Artillerie stützen kann. Anders als Kiew hat Moskau bisher auf eine Generalmobilmachung verzichtet.
Der Krieg ist unberechenbar
Solche Überlegungen ändern freilich nichts daran, daß der Verlauf von Kriegen, wie schon Clausewitz wußte, unberechenbar ist. Seit dem Februar 2022 sind alle Seiten Fehlkalkulationen erlegen. Auch der Westen hat sich geirrt, als er glaubte, die Russische Föderation isolieren und die russische Wirtschaft mit Sanktionen ruinieren zu können. Der Globale Süden hält sich aus dem Konflikt heraus, und der Bundesregierung ist das Kunststück gelungen, dem eigenen Land mit den Sanktionen mehr zu schaden als dem Aggressor. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet in seiner jüngsten Konjunkturprognose für 2023 mit einem Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung um 0,1 Prozent. Für Rußland prognostiziert der IWF hingegen ein Wachstum von 0,7 Prozent.
Die deutsche Politik muß sich bald Gedanken darüber machen, wie das Endspiel aussehen soll. Sie sollte sich schriller Töne à la Baerbock enthalten und Verantwortungsethik vor Gesinnungsethik stellen. Wer es gut meint mit der Ukraine, darf nicht einfach in Kauf nehmen, daß der Krieg am Ende ein zerstörtes, ausgeblutetes Land hinterläßt.
Falls die Ziele der Frühjahrsoffensive verfehlt werden, falls die westlichen Waffenlieferungen keine Wende erzwingen, drängt sich ohnehin ein Waffenstillstand auf – besser vor dem kommenden Winter als erst in einigen Jahren. Vor allem aber: bevor der Krieg zu einem Waffengang zwischen der Nato und Rußland und damit zum Weltkrieg eskaliert. Der würde auf europäischem Boden ausgetragen, nicht auf amerikanischem. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Konflikt, den keine Seite gewinnen kann, nach fürchterlichen Verlusten eingefroren wird. Beispielhaft ist der amerikanisch-chinesische in Korea, der 1953 mit einem Waffenstillstand endete, ohne daß die politischen Streitfragen geklärt werden konnten. Dafür waren 575 Verhandlungstermine im Zeitraum von zwei Jahren erforderlich.
Washington setzt auf den Sieg der Ukraine
Was Berlin in dieser für Europa so existentiellen Auseinandersetzung denkt oder tut, wird gleichwohl nicht entscheidend sein. Spätestens seitdem die Nato 2008 in Bukarest verkündete, die Ukraine als Mitglied aufzunehmen, gibt Amerika den Takt vor. Noch setzt Washington auf Sieg. Zuletzt erteilte US-Außenminister Antony Blinken am 2. Juni in Helsinki einem Waffenstillstand eine Absage, da ein solcher „den Aggressor belohnen und das Opfer bestrafen“ würde. Zugleich mehren sich in den USA die Stimmen, die eine Kursänderung befürworten, auch im Hinblick auf den Hauptgegner China. Kürzlich riet sogar die einflußreiche Rand Corporation zu Verhandlungen und Waffenstillstand, da ein „absoluter Sieg“ einer der Parteien sehr unwahrscheinlich sei.
Unterdessen berichtete der amerikanische Investigativ-Journalist Seymour Hersh unter Berufung auf amerikanische Geheimdienstquellen, daß selbst CIA-Direktor William Burns auf Distanz zur Regierung Biden geht und daß sich bei den Regierungen in Warschau, Prag und Budapest und im Baltikum Kriegsmüdigkeit breitmacht. Selenskyj sei sogar schon nahegelegt worden, notfalls zurückzutreten und sich in seine Ferienvilla in der Toskana zurückzuziehen, um den Weg für den Wiederaufbau der Ukraine freizumachen. Die Polen hätten aus dem bisherigen Verlauf des Krieges den Schluß gezogen, daß sie vor Rußland keine Angst mehr zu haben brauchen. Jetzt muß der Westen unterscheiden zwischen dem, was wünschbar wäre, und dem, was realisierbar ist.