Ungarn steht seit dem Regierungswechsel von 2010 unter Dauerkritik. Die Listenverbindung des ungarischen Bürgerbundes (Fidesz) mit den ungarischen Christdemokraten (KDNP) errang eine Zweidrittelmehrheit und brachte ihren Spitzenkandidaten Viktor Orbán ins Ministerpräsidentenamt. Er konnte auch die folgenden drei Wahlen (2014, 2018 und 2022) für sich entscheiden. Was mag die notorisch freiheitlich-kritischen Ungarn zu dieser Stimmabgabe bewogen haben? Offensichtlich ist es die erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik, deren tiefere Gründe in dem von Zoltán Szalai und Balázs Orbán herausgegebenen Band sichtbar werden.
Der breit gefächerte Band mit 29 Beiträgen beleuchtet die Entwicklung des ungarischen Staates, dessen Wurzeln mehr als tausend Jahre zurückreichen, aus historischer, kultureller, gesellschaftlicher, staatsrechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Sicht. Sie enthüllen die staatsrechtlichen Fundamente und Positionen des heutigen ungarischen Staates. Der Band ist eine Herausforderung für den Leser, aber man kann ihn auch fallweise zur Hand nehmen, um einzelne Aspekte zu vertiefen. Wer sich darauf einläßt, wird mit einem breiten Wissen über die Mentalität des ungarischen Volkes und die entsprechende Politik belohnt und begreift, daß die Kritik an Ungarn meist oberflächlich, geschichtsfern und stark ideologisch gefärbt ist.
Oft wird moniert, daß die derzeitige Regierung die Gesellschaft spalte. Eine Spaltung ist nicht zu bestreiten; die eigentliche Ursache dafür liegt indessen in der parteipolitischen Entwicklung nach der Wende. Sie führte zum einen zu neuen Parteien konservativ-freiheitlichen Zuschnitts, während sich zum anderen sozialistisch bzw. sozialdemokratisch orientierte Parteien aus dem Fundus der alten kommunistischen Partei formten. Das prägt die Spaltungsdebatte bis heute.
Brüssel will eine starke Zentrale
Die EU-Osterweiterung war von der Furcht geprägt, daß ein schleppender wirtschaftlicher Aufholprozeß kommunistischen Ideen wieder Auftrieb verleihen könnte. Um so erstaunlicher ist es, daß die EU bzw. zuvor die EG schon vor 1998 eher mit diesen parteipolitischen Strömungen kooperierte als mit jenen Parteien, die die konservativ-bürgerlichen Werte wieder als tragende Säulen einer freien und demokratischen Gesellschaft ins Bewußtsein heben wollen. Wundern muß das den Leser des Bandes nicht, denn die Kritiker, meist aus der westeuropäisch geprägten EU, haben sich kaum mit der Geschichte und den Motiven Ungarns befaßt.
Zudem streben die Brüsseler Institutionen mit eifriger Unterstützung durch den Europäischen Gerichtshof, eine starke Zentrale an, und sie nutzen jede Gelegenheit, um die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten einzuhegen, und zwar ohne Rücksicht darauf, daß Brüssels Souveränität von den Souveränitäten der Mitgliedstaaten abgeleitet ist, ohne daß diese damit ihre Souveränität aufgeben.
In der Regel kommen Kritik und Klagebegründungen mit den hehren europäischen Werten daher. Ziemlich dreist für ein Institutionengebilde, das die vom ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz festgestellten Demokratiedefizite bislang nicht mal ansatzweise zu beheben versucht. Dafür wird immer wieder Viktor Orbáns Rede von der „illiberalen Demokratie“ thematisiert. Zugegeben, der Begriff ist aus westeuropäischer Sicht geschichtsbelastet und wäre besser vermieden worden.
Wer indessen an den Hintergründen interessiert ist, wird feststellen, daß der Begriff – aus ungarischer Sicht – auf christlichen Werten basiert. Ein falsch verstandener Liberalismus zerstört diese Werte, wie er auch in Ungarn die gesellschaftliche Mitte einschließlich des Adels schwächte und untergrub. Verfassungsrechtlich ist der ungarische Staat zur Neutralität gegenüber weltanschaulichen Einstellungen der Bevölkerung verpflichtet. Das ist gelebter Liberalismus, der jedoch nicht dahin münden darf, der EU zu erlauben, nationale Besonderheiten möglichst einzuebnen und gesellschaftliche Institutionen, die auf christlicher Basis beruhen, zu schleifen.
Ungarn gelang es stets, die eigene Identität zu bewahren
Die rund tausendjährige Geschichte Ungarns ist durch etliche existenzgefährdende Katastrophen gekennzeichnet. Allerdings gelang es dieser Schicksalsgemeinschaft stets, ihre Identität und Staatlichkeit zu bewahren und zu einer neuen kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Blüte aufzusteigen. Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick auf die ungarischen Staatssymbole und dabei insbesondere auf die Stephanskrone zu werfen. Stephan I. hatte das Land christianisiert und erhielt am 17. August 1000 von Papst Silvester bzw. seinem Beauftragten die Königskrone. Damit war die rechtliche Unabhängigkeit des Landes verknüpft.
Die Stephanskrone hat eine wechselvolle Geschichte, bedeutsam ist jedoch, daß sie eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt. Dieses ungewöhnliche Rechtskonstrukt stößt sich zunehmend mit säkularem Denken. Allerdings ist es gerade diese Eigenschaft der Krone, die es ermöglichte, die nationale Identität und Souveränität über alle Irrungen und Wirrungen hinweg als unveränderlichen Kern Ungarns zu behaupten und nach Unterdrückungen und Katastrophen immer wieder daran anzuknüpfen. Sie erlaubt es auch, ethnische Ungarn mit einzubeziehen, die sich nach Trianon plötzlich in anderen Staaten wiederfanden. Diese Zusammenhänge sind den Kritikern wohl unbekannt, oder sie werden mit nachsichtig lächelndem Spott bedacht.
Mit der tiefwurzelnden Bedeutung der Stephanskrone für die ungarische Identität und Souveränität ist die Hoffnung verknüpft, daß sich – dem europäischen Leitwort der „Einheit in Vielfalt“ entsprechend – die „europäischen Eliten“ künftig intensiver mit der ungarischen Geschichte beschäftigen, bevor sie vorschnell Kritik kundtun und Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof anzetteln, denn „strukturelle Differenzen“ und „kulturelle Unterschiede“ zwischen den Mitgliedstaaten verschwinden nicht. Das ist auch nicht wünschenswert, denn wo bliebe bei einer weitgehenden Nivellierung die vielbeschworene „Vielfalt“ in der „Einheit“? Dies ist nicht zuletzt den deutschen Meinungsträgern nahezulegen, zumal die positive Einstellung, die Ungarn Deutschland entgegenbringt, sogar bis in die Zeit von vor 1848 zurückreicht.
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Prof. Dr. Siegfried F. Franke, Jahrgang 1942, lehrte Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht an der Universität Stuttgart sowie Wirtschaftspolitik an der Andrássy Universität Budapest. Er ist Mitglied der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft.
Zoltán Szalai, Balázs Orbán (Hrsg.): Der ungarische Staat. Ein interdisziplinärer Überblick. Springer VS Fachmedien, Wiesbaden 2021 gebunden, XVIII + 519 Seiten, Abbildungen, 84,99 Euro.
JF 44/22