Wolodymyr Selenskyj ist zum Held des Westens aufgestiegen: Dieser 44jährige studierte Jurist und geübte Komiker verteidigt Freiheit und Demokratie, heroisch und mutig, so das allgemeine Bild. Seine Videobotschaften, spartanisch mit dem Handy aufgezeichnet, werden begierig geteilt. In Zeiten der Krise sind Helden offenbar auch im „postheroischen Zeitalter“ immer noch gefragt.
Selenskyj ist zur Projektionsfläche geworden – für die Erwartungen und Bedürfnisse der Europäer und vor allem auch als Negativfolie zum Kremlherrscher Wladimir Putin. Kann ein Mensch dieses Bild wirklich erfüllen? Vor dem Krieg waren Selenskyjs Umfragewerte im Keller, die EU blickte kritisch auf die Korruption im Land. Jetzt ist er gefeierter Vorkämpfer einer ganzen Hemisphäre. Geht das zusammen?
Die Erkenntnis, daß natürlich auch ein ukrainischer Präsident im Krieg Propaganda einsetzt, scheint bisweilen nicht allzu weit vorgedrungen zu sein. Der Einsatz propagandistischer Mittel mag legitim sein, gilt es doch, das Volk zur Verteidigung des eigenen Landes zu mobilisieren im Angesicht des Einfalls einer gegnerischen Macht. Dennoch ist die Aufgabe – gerade von Journalisten – genau das zu dekonstruieren.
Ihm liegt die große Bühne
Einen Ansatz dazu haben nun die Filmemacher Dirk Schneider und Claudia Nagel mit ihrem Film „Selenskyj – Ein Präsident im Krieg“ unternommen. Das dreiviertelstündige Porträt ist in den Mediatheken von ARD und ARTE abrufbar. Es zeichnet nach, wie aus dem Komiker ein Präsident wurde; nein, eigentlich skizziert der Film dies nur, denn große Teile behandeln das gegenwärtige Geschehen, ohne damit einen informationellen Mehrwert zu liefern.
Gleichwohl entsteht ein Narrativ, das für die oben gestellten Fragen relevant ist. Es ist das Bild eines Mannes, der mit seinem Talent zur Selbstdarstellung nun zur richtigen Zeit am richtigen Platz ist. Warum arbeitete er nie als Jurist, sondern ging auf die Bühne? „Das hatte wenig mit dem zu tun, was man unter Kunst versteht“, hören wir Selenskyj sagen, mit dem die Filmemacher bereits 2021 gesprochen hatten. „Wir bekamen Applaus, wir standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich glaube, das wollten wird.“
Im Präsidentschaftswahlkampf 2019 zwang er seinen Gegenkandidaten zum Rededuell auf „die ganz große Bühne“ im Kiewer-Olympiastadion. „Es erinnert an die Spektakel in einer römischen Arena: Brot und Spiele ist ein Teil von Selenskyjs Inszenierung“, wirft eine ukrainische Politikwissenschaftlerin ein. Aus Politik mache er eine Show: „Aber genau das ist Selenskyjs Fach.“
Im Krieg zum Präsidenten geworden
Selenskyj, so erklärt die Doku, habe „die Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Ukrainer“ gebildet – so wie er es auch heute tut, inzwischen jedoch für die ganze westliche Welt. Doch nach anfänglichen Erfolgen geriet der Präsident ins Wanken: Nach rund zwei Jahren begann sein „Glanz“ bereits „zu verblassen“, erfährt der Zuschauer: ökonomische Probleme, verlorene Wahlen. Und: Die weiter vorhandene Korruption. Der Oligarch Ihor Kolomojskyj war ein Förderer Selenskyjs.
Dann marschierten russische Truppen zunächst an der Grenze auf und fielen schließlich in das gesamte Land ein. „Als die erste Rakete eingeschlagen war, hat sich die ganze Nation vereint“, erklärt eine Politikwissenschaftlerin. „Es gibt also keine Opposition mehr, weil alle verstehen, daß Selenskyj die Nation nun anführt.“ Nun nutzt Selenskyj einmal mehr sein Talent zur Selbstdarstellung, um nicht nur sein Volk, sondern auch den Westen hinter sich zu vereinen. Damit sei er womöglich „der mächtigste Medienpolitiker in ganz Europa“, meint ein ukrainischer Historiker.
Der Eindruck, der hier entsteht, ist, daß Selenskyj erst jetzt tatsächlich zum Präsidenten geworden ist. Insofern ist er nicht nur ein „Präsident im Krieg“, sondern auch ein „Kriegspräsident“. Einen wichtigen Hinweis gibt der Film noch zum Schluß: „Niemand weiß, ob Selenskyj der Held bleiben kann, als der er gerade gefeiert wird.“
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„Selenskyj – Ein Präsident im Krieg“ kann in den Mediatheken von ARD und ARTE abgerufen werden.