Sicher, sich auf einmal fremd zu fühlen im eigenen Land, etwas, worunter ja zunehmend mehr Deutsche leiden seit einiger Zeit, ist schlimm. Schlimmer ist es allerdings, sich fremd in fremdem Land zu fühlen. Das erlebte vor rund 2.600 Jahren das Volk Israel. Wie das deutsche Volk an der gegenwärtigen Misere einer wachsenden Überfremdung war auch das der Israeliten selbst schuld an der desaströsen Lage, in die es geraten war. Hatten Jesaja, Jeremia und Hesekiel (Ezechiel), die großen Propheten des Alten Testaments, doch oft genug vor dem Unheil gewarnt, das ihnen drohte.
Gewarnt, daß ein grassierendes Heidentum, der Abfall vom Jahwe-Glauben zugunsten von Aschera- und Baalskult, und die damit einhergehende Unmoral schwere Züchtigungsmaßnahmen nach sich ziehen würden, namentlich den Verlust der Heimat. Die babylonische Gefangenschaft, die rund 2.000 Jahre später Martin Luther als Titel-Metapher seiner Philippika gegen eine vom Bösen überwundene Kirche diente, wurde angekündigt mit scharfen Worten wie denen des gnadenlosen Bußpredigers Hesekiel: „Ich will Strafgericht an dir üben und will deinen ganzen Überrest in alle Winde zerstreuen“ (Hes. 5,10).
Es soll an dieser Stelle einfach mal angenommen werden, daß es sich dabei tatsächlich um Prophetien handelte, auch wenn die moderne Theologie zu ganz anderen Ergebnissen kommt, die allerdings ebenfalls nur auf Hypothesen beruhen. Will man den heutigen Buß- und Bettag mit Sinn füllen, ist die Annahme, daß Gott (sofern er existiert) Unheil nicht nur durch seine irdischen Boten ankündigen, sondern es dann auch sehr konkret eintreffen lassen kann, schlicht und einfach zielführender. Jedenfalls wenn das Ziel lautet, eine gott- und glaubenslos gewordene Gesellschaft, die mit ihrer Gott- und Glaubenslosigkeit nicht besonders weit gekommen ist, zur Buße zu rufen. Legt man das griechische Wort für Buße, metanoia, zugrunde, könnte man mit dem Römerbrief auch anschaulicher von einer „Erneuerung des Sinnes“ sprechen, einem Sinneswandel, ausgelöst dadurch, daß der bisherige Sinn auf wenig Heilsames stieß.
Plagen brachen die Halsstarrigkeit des Pharaos
Die gesamte christliche oder auch postchristliche Welt befindet sich nämlich in einer fundamentalen Krise: mehr kaputte Familien, mehr Vereinzelung, mehr psychische Krankheiten und Defekte denn je diagnostiziert Seelsorger Johannes Hartl in seinem aktuellen Verkaufsschlager „Eden Culture“. Und der Befund traf bereits auf die Prä-Pandemie-Ära zu.
Will man jedoch, aus Nostalgie, aus Liebe zu alten deutschen Wörtern, oder aus theologischer Überzeugung die Buße in die Gegenwart hinüberretten und von dem Staub befreien, der bei seiner bloßen Nennung in unserem postchristlichen Zeitalter vor dem geistigen Auge des Rezipienten auf das Wort zu rieseln beginnt, sollte man ergänzend das nicht minder betagte Wort Plage hinzubemühen. Es bezeichnet schwere Prüfungen, die Gott über die Menschheit verhängt, um sie zurechtzubringen, einen – Obacht! – Sinneswandel herbeizuführen, und dies, zugegebenermaßen, mit drakonischen Mitteln.
Pharaonische Halsstarrigkeit wurde der Bibel zufolge durch Plagen gebrochen. Pest, Hunger und rohe Gewalt, so prophezeite es Hesekiel, suchen Generationen später die nicht minder halsstarrigen Israeliten heim, weil sie genauso dumme Sachen machen wie einst der royale Ägypter: „Widerspenstig“, so Hesekiel, und „gottlos“ habe Jerusalem sich gezeigt (Hes. 5,6).
Züchtigung kann ein Volk verändern
Ein Transfer dieser Befunde auf unsere Pandemie-Gegenwart: geschenkt. Und auch den Blick auf das Geschick des Pharaos und seiner Streitwagen erspart man sich an dieser Stelle besser. Er könnte entmutigen, ja verunsichern. Und das paßt nicht ins Zeitalter von Wertschätzung und Respekt, Respekt vor Menschen, versteht sich.
Viel beglückender ist der Blick auf die Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft, denn er stößt unweigerlich auf die wunderbare Wirkung, die eine Zeit der Züchtigung auf ein Volk ausüben kann. Und damit zurück zum Sinneswandel. Die Schriften des Priesters Esra und des persischen Hofbeamten Nehemia führen dem Leser eine Gemeinschaft vor Augen, die ihre Lektion gelernt hat, sich neu sammelt, in neuer Eintracht zueinander und zu ihrem einheitsstiftenden Gott findet.
Nach der Rückkehr aus dem Exil und dem Wiederaufbau Jerusalems verliest Esra vor dem versammelten Volk die Rechtsordnungen der Thora, deren Mißachtung die vorexilischen Propheten so vehement getadelt hatten. Die Reaktion: „Das ganze Volk“, das sich beim Öffnen des Buches verneigt und vor Jahwe niedergeworfen hatte, „weinte, als es die Worte des Gesetzes hörte“ (Neh. 8,9).
Es fällt einer durchsäkularisierten Gesellschaft nicht ganz leicht, eine alte biblische Schrift zum Vorbild für gegenwärtiges Handeln zu nehmen. Zwar ist der Gott Jahwe auch derjenige, den Jesus Christus seinen himmlischen Vater nannte, und ist dieser Jesus die Zentralfigur jedes deutschen Kirchengebäudes und ist er damit in nahezu jedem Ort mit mehr als tausend Einwohnern nur ein paar Schritte von jedem deutschen Staatsbürger entfernt; aber viel weiter ist bekanntlich der Weg vom Kopf bis ins Herz.