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Das starke Geschlecht in der Bredouille: Die ungestellte Männerfrage

Das starke Geschlecht in der Bredouille: Die ungestellte Männerfrage

Das starke Geschlecht in der Bredouille: Die ungestellte Männerfrage

Männer leiden mittlerweile unter Benachteiligung (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
Männer leiden mittlerweile unter Benachteiligung (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
Männer leiden mittlerweile unter Benachteiligung (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
Das starke Geschlecht in der Bredouille
 

Die ungestellte Männerfrage

Die Lebensqualität von Männern hat in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Die Gründe dafür macht sich die Gesellschaft kaum bewußt. Denn schon die Sozialisation von Mädchen und Jungen sollte in den Blick genommen werden. Die Politik bedient nur weibliche, aber keine männlichen Bedürfnisse. Ein Essay.
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Wenn die Situation zeitgenössischer Männlichkeit beschrieben werden soll, zeigen sich mehrere Ambivalenzen. Die Probleme von Frauen und Mädchen zu diskutieren ist seit der Frauenbewegung „Mainstream“, die Probleme von Jungen und Männern bleiben im gesellschaftlichen Diskurs randständig.

Die zweite Ambivalenz betrifft die schwierige dialektische Verknüpfung von männlicher Macht auf der einen Seite und männlicher Ohnmacht auf der anderen. Dazu gehört auch, daß Männer im öffentlichen Bewußtsein auf unterschiedlichen Ebenen bei Umweltzerstörung, häuslicher Gewalt oder sexuellem Mißbrauch als Täter wahrgenommen werden und in dieses „kohärente“ Bild nicht paßt, daß sie auch Opfer sein können. Dabei wird tabuisiert, daß global über 80 Prozent der Opfer von Gewalt selbst männlich sind (vgl. Kathleen Parker, „Save the Males“).

Eine dritte Ambivalenz hängt mit dem gesellschaftlichen Blick auf Männlichkeit zusammen. Daß unsere neuere Geschichte androzentrisch geprägt war, Männer geherrscht haben, scheint es sehr schwierig zu machen, aktuelle Veränderungen zuungunsten von Männern wahrzunehmen.

Ohnmachtsseite traditioneller Männlichkeit

Die männliche Rolle ist definiert als Ausübung von Leistung und Macht. Traditionelle Männlichkeit – ob heterosexuell oder homosexuell – verlangt Kontrolle, emotionale Distanziertheit, Konkurrenz und Wettbewerb, Härte gegen andere und nicht zuletzt gegen sich selbst. Die tägliche Umsetzung dieser Verhaltensimperative bedeutet auch die tägliche männliche Selbstvergewaltigung.

Selbst wenn männliche Machtpositionen stellenweise noch stabil sein mögen, wird man sich heute nicht an der empirischen Tatsache vorbeilavieren können, daß die Lebensqualität von Männern in den vergangenen Jahren stark abgenommen hat. Beratungsstellen für Männer im deutschsprachigen Raum machen zum Beispiel auf folgende Defizite aufmerksam:

  • Männer haben wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien,
  • Männer vermissen wirkliche Freundschaften und soziale Netze,
  • Männer klagen über emotionale Probleme,
  • Männer leiden zunehmend an Impotenz (allein in Deutschland sechs Millionen)

Quote männlicher Erwerbstätigkeit geht stetig zurück

Trotz solcher Entwicklungen wird der Ohnmachts-Seite traditioneller Männlichkeit nach wie vor kaum Aufmerksamkeit zuteil. Der Leistungs- und Erfolgsaspekt dieser Männlichkeit hindert Männer auch selbst daran, ihren Blick auf ihre Schwierigkeiten und Probleme zu richten. Empirische Untersuchungen belegen, daß Männer im Durchschnitt öfter erkranken als Frauen und eine um 4,7 Jahre verkürzte Lebenserwartung haben. Inzwischen sind Jungen und Männer auch im Arbeitsleben Benachteiligungen ausgesetzt, wo öffentlich noch immer ihre Dominanz vermutet wird.

Während die Quote weiblicher Erwerbstätigkeit weiter steigt, geht die der Männer stetig zurück. Im deutschsprachigen Raum werden proportional mehr Männer arbeitslos als Frauen. Perspektivisch wird sich diese Entwicklung noch verstärken. Ein Grund dafür ist der wachsende Vorsprung von Mädchen in der Bildung. Ihr Schulerfolg ist inzwischen signifikant höher als der von Jungen, die das Gros der Problemkinder, notorischen Schulschwänzer, Schulversager, Ausbildungsabbrecher und Frühkriminellen ausmachen.

Gerät Männlichkeit in die Diskussion, so entzündet sich die Kritik nach wie vor an männlicher Macht und männlichen Privilegien. Dabei steht dann immer das ganze männliche Geschlecht zur Disposition. Jedoch sind Machtpositionen und Vorzüge auf einen sehr kleinen Kreis von Männern beschränkt, die ihre privilegierte Stellung nicht nur auf Kosten von Frauen ausleben, sondern auch zum Schaden der großen Gesamtheit ihrer eigenen Geschlechtsgenossen.

Der gesellschaftliche „Bodensatz“ ist fast ausschließlich männlich

Ebenfalls aus dem Blick fällt, daß der gesellschaftliche „Bodensatz“ von Obdachlosen, chronisch Kranken (zum Beispiel HIV-Infizierten), Kriegsbeschädigten, Randständigen generell, Wanderarbeitern oder Menschen in Gefahrenberufen fast ausschließlich männlich ist. So berechtigt die Kritik an männlicher Usurpation von Macht noch sein mag, so verzerrt ist sie auch, wenn nicht zwischen Männern, männlichen Milieus und männlicher Schichtzugehörigkeit differenziert wird.

An dieser Stelle erscheint auch der Zugang der konventionellen Männerforschung zunehmend fragwürdig. Wenn man sich a priori auf das Kategoriensystem des Feminismus verpflichtet, verengt sich damit auch der Blick auf bestimmte Problematiken. Dementsprechend kritisiert diese Männerforschung auf der Basis der feministischen Kritik durchaus zu Recht Männergewalt, sexuellen Mißbrauch oder männlichen Sexismus, ist aber nahezu unsensibel gegenüber männlichen Lebenseinbußen, die per se aus der männlichen Rolle, aber auch aus der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung entstehen.

Armut, Krankheit, Süchte, Gewalttätigkeit, Vandalismus, sozialer Abstieg und gesellschaftliche Perspektivlosigkeit nehmen bei Jungen und Männern dramatisch zu. 95 Prozent der Insassen in den Haftanstalten sind männlich. Delikt-, Unfall- und Kriminalstatistiken ergeben eine eindeutig männliche Dominanz. Trotz dieser drastischen Augenscheinlichkeit werden diese geschlechtsspezifischen Tatbestände bisher praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Und so ignoriert man auch die Notwendigkeit von Prävention. Dabei belasten die genannten Delikte zunehmend die öffentlichen Haushalte. Pionierstudien aus den Niederlanden und der Schweiz beziffern allein häusliche Gewalt auf Jahresausgaben von einigen hundert Millionen Euro respektive Franken.

Identitätsstiftende Sozialisation von Männern vernachlässigt

Im Gegensatz zu einer stark veränderten Sozialisation für Mädchen ist die Sozialisation von Jungen weithin traditionell geblieben. Frühzeitig wird der Junge in ein gesellschaftliches Korsett von Männlichkeit gepreßt. Die Sozialisations- und Männerforschung belegt im Rückgriff auf Untersuchungen aus unterschiedlichen Feldern, daß Jungen unerbittlich auf Leistung und Erfolg getrimmt werden.

Dazu gehört umgekehrt, daß ihnen Körperkontakt und Zärtlichkeit früh abtrainiert werden, daß sie eigene Probleme schon in einem Alter lösen sollen, in dem sie dazu noch gar nicht fähig sind, und daß sie zu einer männlichen Autarkie angehalten werden, die Beziehungsfähigkeit, Freundschaft und soziale Netze zu tertiärer Lebensbedeutung herabstuft. Identitätsstiftende und -tragende Qualitäten wie Introspektion, Empathie und Soziabilität werden in der männlichen Sozialisation nach wie vor vernachlässigt.

Umgekehrt erleben Jungen die Erziehungseinrichtungen – mit all den Lehrerinnen, Erzieherinnen, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen – als Fortsetzung der häuslichen Mutterdominanz. In Kindergärten, Horten, Ganztagseinrichtungen, Schulen und Beratungsinstanzen stoßen sie ständig an weibliche Verhaltensmuster und Grenzsetzungen. Mit ihrer Motorik und Renitenz drücken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungseinrichtungen als weibliche Bastionen aus. Dieser Widerstand wurde insonderheit auf feministischer Seite nie verstanden und fälschlicherweise als männliches Dominanzverhalten ausgelegt, statt als Hilferuf verstanden zu werden.

Geschlechterpolitik erkennt in Männern nur Objekt der Kritik

Die ungestellte Männerfrage erweist sich mehr und mehr als Bremsklotz der gesellschaftlichen und geschlechterpolitischen Entwicklung. In diesem Zusammenhang merkt die amerikanische Feministin Susan Faludi an, daß man den Männern konkrete Wege weisen muß, die sie auch beschreiten können, so wie der Staat das gegenüber den Frauen seit den siebziger Jahren getan hat. Statt dessen werden Männer, die für sich und ihre Familien neue Zeitmodelle ausprobieren möchten, nach wie vor sozial und ökonomisch diskriminiert.

Daß Männer in der offiziellen Geschlechterpolitik bisher fast nur als Objekt der Kritik ins Visier geraten sind, ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Grundsätzlich läuft es der demokratischen Verfaßtheit eines Staatswesens zuwider, wenn ein ganzes Geschlecht aus politischen Bemühungen ausgespart bleibt. Die Einseitigkeit deutschsprachiger Gleichstellungspolitik als Frauenpolitik zeitigt inzwischen auch manifeste kontraproduktive Tendenzen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. So ist vielfach, etwa im Datenreport des Statistischen Bundesamtes über Alleinlebende, dokumentiert, daß der Familien- und Kinderwunsch bei jungen Frauen massiv höher ist als bei jungen Männern. Als Grund dafür werden die gesellschaftlich unbearbeiteten Rollenkonflikte von jungen Männern angeführt.

Das zweite Beispiel betrifft die wachsende Frustration von Männern angesichts einer Politik, die aus ihrer Sicht nur weibliche und keine männlichen Bedürfnisse berücksichtigt. Gemeint sind damit Bildungsförderung, Beratungsangebote für Männer, Mißstände beim Scheidungs- und Sorgerecht etc.

Männlichkeit ist inzwischen pathologisch

Schließlich hat es vor allem für heranwachsende Männer heutzutage den Anschein, daß männliche Qualitäten per se unrichtig sind und sie als angehende Männer irgendwie falsch gepolt erscheinen. Männlichkeit ist inzwischen in die Nähe des Pathologischen gerückt. Diverse Untersuchungen belegen mittlerweile überzeugend den engen Zusammenhang zwischen der Erosion des klassischen Männerbildes und der dramatischen Zunahme von psychischen Störungen bei Jungen, von Gewalt und Hooliganismus. Nach dem soziologischen Gesetz der „self-fulfilling prophecy“ agieren Jungen und junge Männer das aus, was ihnen verbal zugeschrieben wird.

Was tun? Es wäre nötig, die geschilderten Tatbestände im deutschsprachigen Raum überhaupt einmal als Problemfeld wahrzunehmen. Diese Erkenntnis gälte es in Politiken für Männer umzusetzen. Dazu würde zum Beispiel die öffentliche Unterstützung von Männer- und Jungenprojekten gehören. Das alles enthebt Männer selbstverständlich nicht der individuellen und kollektiven Notwendigkeit, auch selbst etwas dafür zu tun, sich zu verändern.

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Walter Hollstein, Jahrgang 1939, ist Professor für politische Soziologie i. R., Gutachter des Europarates für soziale Fragen und Träger des Deutschen Sachbuchpreises. Von ihm erschien zuletzt der Essayband „Das Gären im Volksbauch“ (Verlag NZZ Libro, Basel 2020).

www.walter-hollstein.ch

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