BRÜSSEL. Die EU-Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Grund ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) aus dem vergangenen Jahr. „Die Europäische Union ist und bleibt eine Rechtsgemeinschaft, das letzte Wort zum EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen“, teilte ein Kommissionssprecher mit. Denn nach Ansicht der Kommission stellt das Urteil des BverfG einen ernstzunehmenden Präzedenzfall dar. „Dies könnte die Integrität des Unionsrechts gefährden und den Weg für ein Europa ,à la carte‘ öffnen.“
Nachdem die Richter des BverfG im Mai 2020 das EZB-Anleiheprogramm PSPP in Teilen als verfassungswidrig eingestuft hatten, forderten sie die Bank auf, die Verhältnismäßigkeit des Programms innerhalb von drei Monaten zu begründen. Die Richter hatten zuvor bemängelt, daß die EZB ihre Beschlüsse nicht umfassend begründet und der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Vorgehen nicht ausreichend geprüft habe.
Nun habe die Bundesregierung zwei Monate Zeit, um auf die Anschuldigungen zu reagieren. Sollte sich die Kommission mit der Antwort nicht zufriedengeben, könne sie die Regierung nochmals förmlich auffordern, den Verpflichtungen aus dem EU-Recht nachzukommen. Falls Deutschland dies nicht mache, könne die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.
Grüne loben EU-Kommission
Der Ökonom und AfD-Gründer Bernd Lucke, dessen Klage gegen die EZB-Anleihekäufe im Mai vom BverfG abgewiesen wurde, äußerte sich am Donnerstag auf Facebook zu dem Vertragsverletzungsverfahren. „Damit stellt sie (die EU-Kommission) die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU.“ Sollte das Verfahren Erfolg haben, dann könnten die nationalen Verfassungsgerichte künftig sogar den Identitätskern ihrer Verfassungen nicht mehr schützen. Die Auslegung des Europarechts unterläge dann allein dem EuGH, für den alle nationalen Verfassungsbestimmungen irrelevant seien. „Die EU hätte sich dann tatsächlich verselbständigt und würde alle ihre Rechtsakte aus sich selbst heraus legitimieren.“
Zustimmung für das Vorgehen der EU-Kommission kam derweil von den Grünen-Bundestagsabgeordneten Franziska Brandner und Lisa Paus, berichtete am Mittwoch die Welt. Es sei der richtige Weg, um den Streit zu klären, sagten sie. Denn das Verfassungsgericht habe „mit seiner Entscheidung die Letztinterpretationskompetenz für europäisches Recht durch den EuGH in Zweifel“ gezogen. (hl)