In seiner Entscheidung zur Kontrolle der EZB-Anleihenkäufen von Anfang Mai verlangt das Bundesverfassungsgericht Erklärungen von der Europäischen Zentralbank. Diese muß darlegen, warum sie ihr Programm zum Ankauf von Staatsanleihen für kompatibel mit dem EU-Recht hält. Geübt im Überschreiten ihres geldpolitischen Kompetenzrahmens zwecks (verbotener) monetärer Staatsfinanzierung, dürfte ihr die Erfüllung der Auflage leichtfallen.
Juristisch spannender sind die Interaktionen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Sie ranken sich um ein Dilemma. Beide Instanzen befassen sich unter anderem mit diesen EZB-Programmen, prüfen aber verschiedene rechtliche Aspekte. Der EuGH bewertet die Vertragsmäßigkeit europäischer Rechtsakte mit Wirkung für die gesamte Europäische Union. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden nur die Organe der Bundesrepublik Deutschland. Die Karlsruher Richter stellen fest, ob vor einem europäischen Rechtsakt eine grundgesetzkonforme Kompetenzübertragung an die EU stattgefunden hat
Allerdings gibt es beachtliche Schnittmengen. Das Bundesverfassungsgericht prüft auch, ob die Organe der EU, hier also die EZB, die Grenzen einer Kompetenzübertragung beachten und nicht „ultra vires“ (jenseits ihrer Zuständigkeit) handeln. Beide Gerichte urteilen quasi „nebeneinander her“, spätestens seit der Karlsruher Entscheidung vom 5. Mai auch unübersehbar „gegeneinander“. Es gibt keinen gesetzlich oder EU-vertraglich normierten Vorrang des einen oder anderen Gerichts und keine übergeordnete Instanz, die den Streit verbindlich schlichten könnte.
„Motor der europäischen Integration“
„Urknall“ des Konflikts zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht sind die beiden Entscheidungen „Van Gend & Loos“ vom 5. Februar 1963 und „Costa/Enel“ vom 15. Juli 1964. Damals entwickelte der EuGH die kühne These, die Römischen Verträge seien unmittelbar geltendes Recht mit „absolutem Vorrang“ vor dem nationalen Recht, auch vor dem nationalen Verfassungsrecht, obwohl die Vertragsstaaten derartiges nie vereinbart hatten. Als Blaupause diente dem EuGH eine auf wirren juristischen Interpretationspfaden halluzinierte „eigenständige Rechtsordnung der Verträge“, die damit der engen, von der Staatssouveränität begrenzten Auslegung des Völkerrechts entzogen wurden.
Die Römischen Verträge vom 25. März 1957 (EWG, EURATOM, EGKS) wurden also über die juristische Hintertreppe aus ihrem völkerrechtlichen Rahmen gelöst und zur europäischen Quasi-Verfassung erhoben − von bürokratienahen Richtern, die sich kaum als Hort unabhängiger Wahrheitsfindung und schon gar nicht als Hüter der Volkssouveränität, sondern als „Motor der europäischen Integration“ begreifen. Weitere fragwürdige EuGH-Urteile folgten, etwa zum „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ der EU (Art. 5 Abs. 1 u. 2 EU-Vertrag), das von den Luxemburger Richtern völlig durchlöchert und zum breiten Einfallstor für EU-Kompetenzen umgestaltet wurde.
Hinzu kamen der ausgeprägte Macht- und Kompetenzhunger der EU-Kommission und eine zur Staatsraison erhobene EU-Beflissenheit deutscher Funktionseliten. Alle diese Faktoren haben die Vergemeinschaftung nationalen Rechts massiv beschleunigt und daran mitgewirkt, daß ein europäischer „Staatenverbund“ (Bundesverfassungsgericht, Maastricht-Urteil, 12. Oktober 1993) entstehen konnte, der von der bloßen Wirtschaftsunion längst in den Aggregatzustand einer politischen Union übergegangen ist.
Krachender Rohrkrepierer
Halten wir fest: Die Rechtsprechung des EuGH überhöht das EU-Vertragsrecht, soweit es ihm Verfassungsrang und damit einen Status verleiht, der weit über die Intention der Mitgliedstaaten hinausgeht. Die Losung lautet: Europäische Integration bis hin zum EU-Superstaat um jeden Preis! Es verwundert daher nicht, daß der 1992 eingefügte Grundsatz der Subsidiarität von EU-Recht gegenüber dem nationalen Recht (Art. 5 Abs. 1 u. 3 EU-Vertrag) zum krachenden Rohrkrepierer wurde.
Vor allem aber beschädigt der EuGH die Demokratie. Die sich darauf stützende Legitimationsressource der EU ist denkbar klein; denn es gibt nur schwache demokratische „Lichtreflexe“ im europäischen Institutionengefüge. Gemeint sind die Mehrheitsbeschlüsse des Europäischen Rats und Ministerrats. Diese Gremien bestehen aus Mitgliedern nationaler Regierungen, die ihre Ämter demokratischen Parlamentswahlen ihrer Heimatstaaten verdanken.
Keine Legitimationsressource bilden die Wahlen zum Europäischen Parlament. Elementare demokratische Wahlprinzipien werden hier verletzt. Da die aus den Mitgliedstaaten entsandten Parlamentarier nicht annähernd die Einwohnerzahl ihrer Heimatländer spiegeln, fehlt es an der Gleichwertigkeit aller abgegebenen Stimmen. Zudem ist der demokratietypische Grundkonsens zwischen Bürger und gewähltem Mandatsträger gestört; denn die parlamentarische Willensbildung geht von (supranationalen) Fraktionen aus, die auf (nationalen) Stimmzetteln unter keinem Parteinamen auftauchen. „EU-Bürger“ wissen nur lückenhaft, welche politischen Programme sie mit ihrer Stimmabgabe fördern.
Tor zum demokratiefeindlichen Totalitarismus
Schwerwiegendstes Demokratiedefizit ist aber die geringe Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Offenbar empfinden sich nur wenige „EU-Bürger“ als Teil einer „EU-Nation“, dafür um so mehr als Deutsche, Franzosen, Griechen, Spanier, Finnen usw. Wer dennoch par ordre du Mufti einen EU-Superstaat mit künstlich installiertem EU-„Staatsvolk“ schaffen will, stößt das Tor zum demokratiefeindlichen Totalitarismus weit auf; denn jede Konstituierung von EU-„Staatsgewalt“ führt unvermeidlich zum Verlust der vom (deutschen) Volk ausgehenden Staatsgewalt (Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz).
Aus diesem Befund ergeben sich Folgerungen für das Verhältnis von EuGH und Bundesverfassungsgericht. Ein die Demokratie bekämpfender Spruchkörper kann unmöglich den gleichen politischen, juristischen, rechts- und staatsethischen Rang beanspruchen wie das höchste Gericht eines Nationalstaats, das ebendiese Demokratie verteidigt. Da der vom Bundesverfassungsgericht angestoßene „Dialog“ mit dem EuGH offensichtlich scheitert, obliegt es deutschen Staatsorganen, dem Bundesverfassungsgericht zur Seite zu stehen und den EuGH zu richterlicher Zurückhaltung und Ausgewogenheit zu mahnen. Gleiches gilt für den Umgang mit EU-Kommission und EZB. Das Europa souveräner, demokratischer Vaterländer darf nicht zu einer Macron-Merkel-v.d.Leyen-Bürokratie verkümmern.