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Meuterei in der NVA: Das Menetekel von Beelitz

Meuterei in der NVA: Das Menetekel von Beelitz

Meuterei in der NVA: Das Menetekel von Beelitz

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In einem NVA-Regiment im Norden von Leipzig wird im September 1990 vor der Wiedervereinigung die DDR-Fahne eingerollt Foto: picture alliance/dpa-Zentralbild
Meuterei in der NVA
 

Das Menetekel von Beelitz

Vor 30 Jahren meuterten in der Garnsion Beelitz mehrere hundert NVA-Soldaten. Die zumeist Wehrpflichtigen forderten unter anderem eine Militärreform sowie die Verkürzung der Wehrdienstzeit. Es war der Beginn vom Ende der Nationalen Volksarmee, deren desolater Zustand zunehmend sichtbar wurde. Von Christian Vollradt.
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Als der Verteidigungsminister mit seinem Dienstwagen eintraf, gab es zur Begrüßung weder die sonst übliche Ehrenkompanie noch klingendes Spiel oder eine zackige Meldung des Kommandeurs. Was Theodor Hoffmann an diesem 2. Januar 1990 in Beelitz, eine halbe Autostunde südwestlich von Potsdam, stattdessen vorfand, waren Hunderte einfacher Soldaten, in Wolldecken gehüllt und mit brennenden Kerzen in der Hand.

Während in Berlin am Brandenburger Tor etwa 100.000 Feiernde auf beiden Seiten der Mauer gemeinsam das neue Jahr begrüßten und schon echte Vereinigungsstimmung herrschte, hatten Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) in der Garnison Beelitz – zumeist Wehrpflichtige kurz vor Abschluß der Grundausbildung – in der Silvesternacht ihre Unterkünfte verlassen, um vor der Kaserne für eine Militärreform zu demonstrieren. Sie weigerten sich, in die Unterkünfte zurückzukehren.

Einsatz in der Produktion

Bereits am Neujahrstag wurde Admiral Theodor Hoffmann, seit dem 18. November Minister für Nationale Verteidigung in der Regierung von DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (SED-PDS) eine Meldung auf den Tisch seines Dienstsitzes in Strausberg gelegt:

„Am 01.01.1990, ab 01.00 Uhr kam es am Standort Beelitz zu einer Protestaktion vor der Dienststelle, bei der ca. 300 Armeeangehörige Forderungen zur schnelleren Durchsetzung der Militärreform vortrugen. Es wurden 378 Unterschriften für eine Resolution gesammelt, die gegen 13.00 Uhr an die Nachrichtenagentur ADN übergeben wurde. Schwerpunkte der Forderungen: sofortige Entlassung und Arbeitsaufnahme in den Heimatorten; Verkürzung der Wehrdienstzeit auf 12 Monate; Schaffung Gesetz für Wehrersatzdienst; Verbesserung der Dienst- und Lebensbedingungen; öffentlicher Zugang zu allen Militärobjekten; angemessene Regelung dieser Probleme innerhalb des Dienstverhältnisses Unteroffizier auf Zeit. Trotz geführter Aussprachen durch leitende Offiziere des Militärbezirks V und der 1. Mot.-Schützen-Division nahmen sie den Dienst nicht auf und verbinden die Rückkehr in die Dienststelle mit konkreten Zusagen zu ihren Forderungen.“

Was sich vor genau 30 Jahren in Beelitz – und so ähnlich in kleinerem Umfang auch an anderen Standorten der NVA – ereignet hatte, war die erste und bisher einzige Meuterei deutscher Soldaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Rekruten sollten nach ihrer Grundausbildung zur Unterstützung der Volkswirtschaft „in die Produktion“ geschickt werden. Seit den achtziger Jahren war die Armee in der DDR immer häufiger als „ökonomischer Nothelfer“ in der Produktion eingesetzt worden. 1989 arbeiteten 10.000 NVA-Soldaten als billige Arbeitskräfte ständig in 64 Kombinaten.

Kaum noch gefechtsbereit

Allein von Januar bis April des Jahres leisteten die Uniformierten Arbeit im Gegenwert von insgesamt 338,6 Millionen Mark. Und weil ab dem Sommer immer mehr DDR-Bürger über Ungarn oder die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik geflohen waren, mußten verstärkt Soldaten einspringen – ob im Tagebau, in Krankenhäusern oder als Busfahrer.

Die Folge war unübersehbar: Militärisch war der bewaffnete Arm der „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ kaum noch gefechtsbereit. Und schlimmer noch: „Die permanenten Einsätze in der Volkswirtschaft stärkten kaum das Ansehen der NVA, sondern untergruben eher die Wehrmotivation der Armeeangehörigen und die Akzeptanz der Streitkräfte in der Bevölkerung“, resümierte ein Militärhistoriker. Die vielbeschworene „Einheit von Volk und Armee“ – ein Propagandamärchen.

Für die aufrührerischen Soldaten in Beelitz kam ein weiterer Anlaß für ihren Streik hinzu: Sie hatten sich über das Verhalten ihrer Offiziere geärgert – und über das Alkoholverbot an Silvester. Um ein Ausgreifen auf die Truppe zu verhindern, machte sich also der Verteidigungsminister höchstpersönlich auf den Weg zu den Protestlern. „Wenn die Armee meutert“, so befand er kurz danach vor Kommandeuren, „dann ist der Bestand der Republik gefährdet.“

Hoffmann hatte erst sechs Wochen zuvor Heinz Keßler als Ressortchef abgelöst. Der Marineoffizier galt im Vergleich zur „alten Garde“ an der Spitze der NVA nicht als Hardliner. Bereits zwei Tage nach Amtsantritt hatte er eine Militärreform angekündigt, mit der „alte Zöpfe“ abgeschnitten werden sollten, etwa die ständige Gefechtsbereitschaft oder die Privilegien des höheren Offizierskorps. Auch sollten Demokratiedefizite in der Truppe abgeschafft werden.

Politorgane der NVA sollten aufgelöst werden

So erlaubte man etwa Anfang Dezember in den Kasernen den Empfang von West-Fernsehen und -Radio. Kurz danach wurde ein Ausschuß zur Untersuchung von Amtsmißbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA gebildet, zum Ende des Jahres 1989 stellten die Parteiorganisationen der SED-PDS die Tätigkeit in der NVA ein, zwei Monate später wurden alle Politorgane der NVA aufgelöst.

Der Minister, in Begleitung der für die Landstreitkräfte zuständigen Armeeführung, wurde nun von den Sprechern der Meuternden aus verschiedenen Truppenteilen empfangen. „Einer der Sprecher teilte mir dann mit, daß die Soldaten mich mit meiner blauen Uniform erwarteten, daß aber nicht sicher sei, ob sie meine Antwort akzeptieren würden, da für Männer, die schon zwei Tage auf der Straße zugebracht hätten, auch ein Minister nicht mehr viel zähle“, schrieb Hoffmann später rückblickend auf die außergewöhnliche Situation. Zwei Stunden verhandelte er mit den Vertretern dieser „Soldatenräte“.

Nicht alle Punkte des inzwischen auf das Vierfache angewachsenen Forderungskatalogs ließen sich aus Sicht der NVA-Führung unverzüglich und vollständig erfüllen, aber immerhin einigte man sich vorläufig. Dann trat Hoffmann vor die Streikenden, hielt eine Ansprache in sehr ruhigem Tonfall und verkündete schließlich: „In Abstimmung mit dem Ministerpräsidenten unseres Landes wird entschieden, daß nach Abschluß der Ausbildung hier am 26. Januar die Genossen zurückgeführt werden zu den heimatlichen Wehrkreiskommandos und in den Kreisen in der Volkswirtschaft eingesetzt werden.“

Damit hat der Minister eine der Hauptforderungen der Meuterer, nämlich heimatnah untergebracht zu werden, erfüllt. Ihrem aufbrandenden Jubel folgt die Bitte des Mannes, der in seiner blauen Marineuniform vor ihnen steht: „Nachdem Sie mir hier 24 Forderungen vorgelegt haben, auf die ich geantwortet habe, würde ich Sie bitten, daß Sie eine Forderung von mir erfüllen: daß Sie ordnungsgemäß wieder Ihren Dienst aufnehmen.“ Das DDR-Fernsehen sendete diese Passage mit der Bitte eines Mannes, der eigentlich hätte Befehle erteilen können, in den Nachrichten der „Aktuellen Kamera“. Mit seiner moderaten Art hatte der Admiral im Moment Erfolg, die Befehlsverweigerer kehrten in die Kasernen zurück.

Vorwürfe von Kommandeuren

Doch „die Lawine war schon losgetreten: Die Bilder im DDR-Fernsehen zeigten eine Armeeführung, die sich von ein paar hundert meuternden Rekruten vorführen ließ, denen der Minister persönlich alles Mögliche versprach und sie schließlich mit der Bitte entließ, doch nun ihren ‘Streik’ zu beenden“, heißt es in einer militärhistorischen Darstellung dieser Ereignisse vor 30 Jahren. Das „Fußvolk“ habe seiner Armee die Bedingungen diktiert, unter denen es überhaupt noch zu „dienen“ bereit gewesen sei.

So ähnlich lauteten auch die Vorwürfe, die sich der Minister einige Tage danach von Kommandeuren der NVA anhören mußte. Doch der beharrte auf der Richtigkeit seines Tuns. Es gebe keinen anderen Weg. Er habe nicht mehr zugesagt, als was ohnehin von der Reformkommission geplant wurde. Und Hoffmann warnte etwaige Heißsporne: „Sollte es noch jemanden geben, der mit dem Gedanken spielt, ‘bis hierher, aber dann wird zurückgeschlagen’, der sollte schnellstens und mit aller Konsequenz davon abrücken.“

Und es blieb nicht bei den Vorkommnissen von Beelitz. In der Folge kam es zu weiteren Demonstrationen und bereits am 3. Januar rückten Delegationen von Truppenteilen aller Teilstreitkräfte am Sitz des DDR-Verteidigungsministers in Strausberg an. Hoffmann beschrieb es später so:

„Diese Abordnungen – sie setzten sich aus Soldaten, Unteroffizieren, Fähnrichen und Offizieren zusammen – wurden denn auch von mir empfangen und es wiederholten sich die wechselseitigen Argumentationen von Beelitz. Während dieser zwei Stunden kam es auch zu ausgesprochen unsachlichen Verhaltensweisen bis hin zur Ankündigung von Lynchjustiz. Es wurde sogar damit gedroht, daß sich die Panzer in Richtung Berlin in Bewegung setzen würden, falls keine klaren Antworten erteilt werden.“

„Der politisch-moralische Zustand der Truppen ist zum Teil destabilisiert“

Das revolutionäre Aufbegehren der Deutschen in der DDR hatte nicht vor den Kasernentoren Halt gemacht. An zahlreichen Standorten hatten sich Soldatenräte gebildet, die ein „menschlicheres Klima“ forderten: mehr Freizeit, weniger Drill, Ausgang in Zivil, Verzicht auf Schikanen, Mitsprache bei der Aufstellung der Dienstpläne. Das Stimmungsbild in der Truppe sei durch „nachlassende Disziplin, fehlende Motivation und ein mehr und mehr rebellisches Verhalten“ gekennzeichnet.

„Der politisch-moralische Zustand der Führungsorgane und Truppen ist zum Teil destabilisiert. Eine fortschreitende Demoralisierung des Personalbestandes ist nicht zu übersehen. Soldaten des 2. und 3. Diensthalbjahres zeigen demonstrativ ein Desinteresse an der militärischen Ausbildung“, hieß es in einem internen Bericht. Von der einst stets gefechtsbereiten, disziplinierten und – zumindest in ihren Kadern – motivierten Armee der Vergangenheit war nicht mehr viel übrig.

Die NVA verfügte Ende 1989 über etwa 168.000 Mann, rund 45 Prozent waren Wehrpflichtige und immerhin 40 Prozent Berufssoldaten. Die Fälle von Fahnenflucht häuften sich. Jeden Monat setzte sich umgerechnet eine Kompanie ab. Von Anfang Dezember 1989 bis Anfang Mai 1990 waren etwa 1.500 Mann desertiert, davon 65 Offiziere. Einer internen Umfrage zufolge hätte Anfang Januar 1990 bereits jeder zweite NVA-Offizier den Dienst beendet, wenn mit Ablauf der Mindestdienstzeit die Möglichkeit bestanden hätte.

Die NVA war nicht zuretten

An der Offiziershochschule der Landstreitkräfte wollten sich mehr als 700 Offiziersanwärter entpflichten lassen. Auch seien erste Stimmen über einen möglichen Eintritt in die Bundeswehr zu verzeichnen gewesen. Verteidigungsminister Hoffmann konstatierte schließlich einen „Zusammenbruch der Motivation bei den Berufssoldaten“ – von denen zum Jahreswechsel 1989/90 immerhin noch 81 Prozent Mitglied der SED-PDS waren. Äußerlich vollzog sich der Abschied von der Parteiarmee.

Am 5. Januar wurde die Anrede „Genosse“ in der Truppe zugunsten von „Herr“ oder „Frau“ abgeschafft, im selben Monat wurde die „Verwaltung 2000“, das Überwachungsorgan der Stasi in der NVA, aufgelöst. Am 20. Januar gründete sich der Verband der Berufssoldaten der DDR und drei Tage später die Gewerkschaft der Armeeangehörigen.

Hoffmann und seine „Reformer“ mußten erkennen, daß ihr Versuch, die bisherige Parteiarmee – „gewendet“ – in die neue Zeit zu retten – letztlich vergeblich war. Angesichts des desolaten Zustands der NVA und des sich immer stärker abzeichnenden Wegs in Richtung Wiedervereinigung, fragten sich selbst hochrangige Soldaten, wofür man die NVA überhaupt noch brauche. Die Meuterei hatte der Verteidigungsminister am 2. Januar 1990 noch zügig beenden können, doch das Ende „seiner“ Armee zeichnete sich längst ab. Beelitz war ein Menetekel.

In einem NVA-Regiment im Norden von Leipzig wird im September 1990 vor der Wiedervereinigung die DDR-Fahne eingerollt Foto: picture alliance/dpa-Zentralbild
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