Andrea Nahles‘ Rücktritt von allen Parteiämtern ist für die SPD kein Befreiungsschlag. Wer bereits zum Restmüllcontainer der Parteiengeschichte geschleppt wird, kann sich nicht mehr wirklich befreien. Allenfalls kann die SPD noch eine „kleine Wiedervereinigung“ vollziehen − mit der USPD des 21. Jahrhunderts, also der Linkspartei, um danach als schlechtes Vorzeigegewissen der Überflußrepublik Deutschland die kümmerliche Rolle einer Zehn-Prozent-Partei zu spielen.
Kaum jemand aus der SPD-Führungsriege erwähnt die großen Namen der Parteigeschichte: August Bebel, Friedrich Ebert, Otto Wels, Kurt Schumacher, Willy Brandt oder Helmut Schmidt. Ihre Bilder mögen in der Ahnengalerie des Willy-Brandt-Hauses hängen, sie selbst aber werden nicht mehr als prägend empfunden und weitgehend ignoriert.
Ein anderer großer Sozialdemokrat, der Rechtsphilosoph und -politiker Gustav Radbruch (1878-1949), sandte 1922 als Reichsjustizminister folgende Neujahrsbotschaft nach Österreich: „Deutschland und Österreich: ein Volk, ein Reich! Auch in dieser Stunde senden wir unsere brüderlichen Grüße vom Rhein zur Donau! Über den Ländern wölbt sich die stolze Kuppel des Reichs. … Wir lieben alle das deutsche Land, wir freuen uns alle der deutschen Sprache, wir leben alle gemeinsam in deutscher Dichtung, deutscher Kunst, deutscher Musik.“
Schicksal der SPD als Warnung für alle Parteien
Wie es einem SPD-Mitglied Radbruch heute ergehen würde, läßt sich leicht ausmalen. Auf Kommando würde die geballte „Gegen-rechts“-Armada der Partei zur Nazikeule greifen und über den rechtschaffenen Mann herfallen. Der Weg zur kollektiven Zwangsneurose ist nicht mehr weit. Anschauungsunterricht liefert Thilo Sarrazin. Der hellsichtigste Sozialdemokrat unserer Zeit wird ständig mit Ausschlußverfahren seiner eifernden „Parteifreunde“ überzogen, die nicht einmal merken, wie sie die SPD damit spalten und der Lächerlichkeit preisgeben.
Die SPD von 2019, das sind jene Sozialarbeiter, Studienabbrecher, gelegentlich auch Studienabsolventen, deren sozialdemokratische Väter und Großväter im Ruhrgebiet und anderen industriellen Ballungsräumen hingabevoll für akademische Chancengleichheit gekämpft haben. BaFöG und „zweiter Bildungsweg“ lassen grüßen. Statt Dankbarkeit zu zeigen, verleugnen diese entwurzelten Genossen die Arbeitermilieus ihrer Vorfahren, beklatschen mit sehnsüchtigen Blicken den Gender-, Multikulti- und „Refugees-Welcome“-Furor linksliberaler Hipster und Kosmopoliten oder fordern, wie Juso-Chef Kevin Kühnert, den ganz großen Schritt zurück in die marxistische Steinzeit der SPD.
Wer ständig Programme für Minderheiten auflegt, wird eines Tages selber als Minderheit enden. Diese schmerzliche Erfahrung der SPD sollte alle Parteien warnen, die angesichts aktueller Wahlergebnisse und Umfragen meinen, man müsse jetzt nur die Beglückungsbotschaften der Grünen kopieren. Erfahrungsgemäß wählen die Bürger dann erst recht das „Original“.
Spiel mit der Angst
Merkels Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ funktionierte nur deshalb eine Zeit lang, weil ein schwaches Führungspersonal der Grünen kaum Begeisterung für die eigenen Themen entfachen konnte. Mit der sich epidemisch ausbreitenden „Klimareligion“ ist das schwankende Gebäude dieser Strategie in sich zusammengestürzt. Ökologie als politisches Programm ist generationenübergreifend in die bundesdeutsche DNA eingedrungen. Zudem scheint der neue Parteichef der Grünen, Robert Habeck, eine magische Wirkung auf das größer gewordene „Latte-Macchiato“-Wohlstandsmilieu zu entfalten.
Für die SPD wurde das grüne Virus also zur tödlichen Falle. Wie aber sollten CDU/CSU, FDP und AfD auf den Höhenflug der Habeck-Jünger reagieren? Dieser beruht, wie angedeutet, auf der spontanen Wucht der Klima-Bewegung und schafft frappierende Assoziationen an die achtziger Jahre, als die noch junge Partei der Grünen auf der Woge der Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung in die Parlamente gespült wurde. Heute wie damals vollziehen sich die Interaktionen von Politik und Metapolitik im Spiel mit der Angst.
Nicht alle diffusen Ängste sind heilbar, aber das probateste Mittel gegen sie ist immer noch die Vernunft. Diese beharrt darauf, daß verantwortungsvolle Politik komplexe Lösungen erfordert, die der ökogrüne Tunnelblick gesinnungsethischer Monothematik nicht liefern kann. Wir brauchen Gewichtungen und Abwägungen aller politischen Zielvorgaben und der zu ihrem Erreichen geeigneten Maßnahmen. Wer über Energiepolitik entscheidet, muß neben dem Klimaschutz auch die Versorgungssicherheit sowie die Kosten und wirtschaftlichen Folgen einer Energiewende beachten.
Obendrein sollten die politischen Gegner der Grünen über ein ökonomisch und naturwissenschaftlich kompetentes, überzeugend auftretendes Parteipersonal verfügen oder sich der Hilfe solcher Experten bedienen, damit die zahlreichen Tabus, Halbwahrheiten und Widersprüche linksgrüner Ökologie für jedermann erkennbar entlarvt werden.