Das Gefängnis „El Helicoide“ hockt wie eine schwarze, bleierne und böse Vorhersage auf dem Hügel mitten in der Millionenmetropole. In Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, wird die dreiseitige Pyramide „Das Schneckenhaus“ genannt. Der Name ist passend, schließlich dient es auch als Hauptsitz des Bolivarischen Nationalen Nachrichtendienstes, kurz SEBIN. In den fünfziger Jahren wurde es als modernes Einkaufszentrum geplant. Heute sind hinter den grauen, verwitterten und ungepflegten Betonwänden statt kleinen Läden Zellen abgeteilt.
„El Helicoide“ dient dem Geheimdienst also nicht nur als Hauptquartier, sondern auch als Gefängnis. Die kurzen Wege sollen wohl die Arbeit der Sicherheitsorgane effektiver gestalten. Über 300 Häftlinge, davon viele politische Gefangene, sitzen in dem terrassenförmig angelegten Bau, der nie fertiggestellt, aber schon 1992 im Bürgerkrieg bombardiert worden war.
Six’ Familie ist enttäuscht vom Auswärtigen Amt
Einer der Häftlinge ist der deutsche Kriegsreporter Billy Six. Am 17. November wurde er verhaftet – und einen Tag später in das berüchtigte Gefängnis verschleppt. Er sitzt in einer Einzelzelle, teilweise unter Beobachtung eines Wärters. Die Lage des Häftlings spitzt sich gefährlich zu. Billy Six’ Familie ist von der zugesagten Unterstützung des Auswärtigen Amtes enttäuscht. „Die Arbeit der Deutschen Botschaft war für mich bisher unbefriedigend“, sagt Billys Vater Edward Six gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Die wollen mal schauen, ob sie eine Besuchserlaubnis bekommen. Ich habe denen gesagt, ich würde von ihnen eher eine Protestnote erwarten. Das wollen sie prüfen, wurde mir dann gesagt.“
Am 4. Dezember erreichte Billys Vater aus der Konsular-Abteilung der Botschaft in Caracas eine E-Mail, die der JF vorliegt. Aus ihr geht hervor, daß bis zu dem Zeitpunkt kein Botschaftsmitarbeiter Billy Six in der Haft besuchen konnte. Die Botschaft selbst bezeichnet ihre Aktivitäten als „intensiv“. Sie wolle sich weiterhin um eine „konsularische Betreuung“ kümmern.
Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, wenn Billys Vater sagt: „Ich bin vorsichtig, will die nicht verprellen. Es geht schließlich um meinen Sohn, aber zum Händchenhalten brauche ich die nicht.“
Kritik an „Reporter ohne Grenzen“
Doch nicht nur die Deutsche Botschaft, auch die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ setzt sich, so Six’ Einschätzung, zuwenig für seinen Sohn ein. Reporter ohne Grenzen wurde erst durch die junge freiheit auf den Fall aufmerksam gemacht (JF 50/18). Geschäftsführer Christian Mihr sicherte per E-Mail zu: „Über unser Lateinamerika-Büro in Rio de Janeiro stehen wir in Kontakt mit der Deutschen Botschaft in Caracas und setzen uns vor Ort dafür ein, Billy Six zu unterstützen und seine Rechte zu wahren.“
„Von denen bin ich richtig enttäuscht. Auf ihrer Liste, welche Journalisten wo verhaftet sind, steht unter Venezuela ein Journalist. Aber es handelt sich nicht um meinen Billy. Die behaupten, sich um meinen Sohn zu kümmern, aber wenn ich nachfrage, kriege ich von denen nur E-Mails mit Inhalten, die ich kenne. Die geben an mich die Informationen, die ich vorher Ihnen gab. Was soll das denn? Um sich später einen Erfolg ans Revers zu heften?“ Billys Vater klingt verzweifelt.
Die Situation ist für Familie Six auch deshalb so vertrackt, weil sie die Regierung Venezuelas eigentlich nicht erzürnen will. „Wir haben jetzt ein Ehepaar kennengelernt, das auf seiner Hochzeitsreise in Venezuela festgenommen wurde und zwei Jahre dort im Gefängnis saß. Die sind im Juni freigekommen, wurden von Trump empfangen. Die haben uns abgeraten, mit den ortsansässigen NGOs (Nichtregierungsorganisationen, Anm. d. Red.) zusammenzuarbeiten. Die sind zumeist Feinde des Präsidenten Nicolás Maduro. Wir sind auf niemandes Seite, und Billy war und ist es auch nicht. Deshalb ist eine Unterstützung von deutscher Seite, ohne Partei für irgendeine Seite des politischen Spektrums in Venezuela zu ergreifen, so wichtig.“
Für Six ist klar, daß der Druck, Billy freizukriegen, aus Deutschland kommen muß. Welche Interessen sich dort allerdings ungünstig auswirken können, ist nicht bekannt. Wird Six als Journalist zweiter Klasse angesehen, weil er nicht in Festanstellung arbeitet, sondern als sogenannter „Freier“? Oder werden ihm seine ehrlichen Reportagen zur Last gelegt? Oder gibt es wirtschaftliche Interessen an diesem sich in Auflösung befindenden Land? Es sind diese Fragen, die sich Außenstehende stellen. Das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit deutscher Behörden, zumal des Auswärtigen Amtes, ist durch Fälle wie den von Elisabeth Käsemann erschüttert worden.
Zur Erinnerung: Käsemann wurde 1977 von der argentinischen Junta ermordet. Über zwei Monate war sie zuvor schwer gefoltert worden. Um ihre Leiche nach Deutschland transportieren zu können, mußten die Eltern diese für 25.000 Dollar ihren Mördern abkaufen. Zwar hatte sich die Botschaft zu Beginn der Inhaftierung für Käsemanns Freilassung eingesetzt, doch politische Unterstützung durch das westdeutsche Außenministerium wurde verweigert. Sei es, weil die Regierung Helmut Schmidt Käsemann terroristische Bestrebungen unterstellte oder, was wahrscheinlicher ist, die argentinische Militärjunta nicht brüskieren wollte, mit der sie lukrative Waffendeals eingegangen war.
In der Früh kam das Geheimdienstkommando
Sicher sind jetzt allerdings die genauen Tatvorwürfe, die Billy Six zur Last gelegt werden. „Billy hat uns mitgeteilt, worauf sich die Anklagepunkte vor dem Militärgericht in Venezuela stützen“, sagt sein Vater der JF. Demnach handelt es sich beim ersten Anklagepunkt um Spionage. „Es werden ihm Fotos von öffentlichen Militärparaden zum Nationalfeiertag in Fuerte Tiuna am 5. Juli 2017 und 5. Juli 2018 zur Last gelegt“, berichtet sein Vater. „Doch die Beschuldigungen sind haltlos, da dort jeder der Zuschauer Fotos aufgenommen hat.“ Der zweite Punkt klagt den Deutschen der „Rebellion“ an: „Hier wird Billy das Treffen mit der Farc zur Last gelegt. Dieses Treffen fand im Rahmen von Billys Reportage für die JUNGE FREIHEIT statt.“
Der dritte Anklagepunkt befaßt sich mit dem Vorwurf der „Verletzung der Sicherheitszonen“: Sein Vater dazu: „Hier wird Billy tatsächlich das Foto von Präsident Maduro zur Abschlußkundgebung bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2018 zur Last gelegt. Die Anschuldigung ist falsch, da sich Billy hinter dem Sicherheitszaun 60 bis 80 Meter entfernt in dem für jedermann zugänglichen öffentlichen Bereich befand, als er das Foto machte. Er benutzte den Sicherheitszaun als Auflage für den Fotoapparat. Das Foto ist auch auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht.“
Billy fordere, so Edward Six, noch immer vergeblich, die Deutsche Botschaft in Venezuela sprechen zu dürfen. „Doch ihm ist jeglicher Kontakt zur Außenwelt untersagt. Er darf keinen eigenen zivilen Anwalt wählen.“
Hilferuf aus dem Gefängnis
Billy Six hat einen Hilferuf aus dem Gefängnis schmuggeln können. Er ging dem CDU-Bundestagsabgeordneten Hans-Jürgen Irmer zu. Der nahm den Brief zum Anlaß, um an Bundesaußenminister Heiko Maas zu schreiben und ihn um Unterstützung zu bitten: „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie im Sinne des jungen Journalisten dort möglichst zeitnah intervenieren lassen könnten.“
Die Unterstützung durch das Außenministerium ist deshalb auch dringend geboten, weil Billy Six noch immer sehr krank ist. Bis heute fehlen ihm die Medikamente gegen das Denguefieber, unter dem er schon vor seiner Verhaftung litt. Sie waren ihm durch die Geheimpolizisten abgenommen worden. „Anschließend waren sie unauffindbar und konnten durch die Gefängnisleitung auch nicht wieder beschafft werden“, so der Vater. „Die medizinische Versorgung durch die venezolanischen Behörden ist also nicht gegeben.“
Es sei zwar gelungen, durch einen Kontakt zu hilfsbereiten Menschen für Billy einen Teil der Medikamente zu beschaffen. Nach einem Rezept eines Internisten habe er bereits das Fiebermittel Paracetamol erhalten. Es fehlten aber noch Folsäure- und Vitamin-C-Tabletten. „Wir haben heute eine dringende Bitte um Beschaffung an die Deutsche Botschaft in Caracas gestellt.“
Geklärt ist jetzt, so der Vater, wie der Geheimdienst auf seinen Sohn aufmerksam wurde. „Es war ein Zufall“, so Edward Six zur JF. „Am Abend des 16. November führten sie in einer Disko eine Identitätskontrolle aller Leute dort durch. Billy hatte seinen Paß nicht dabei. Deshalb fuhren die Beamten mit ihm in sein Hotel, nahmen seine Personalien auf und fuhren davon. Zwölf Stunden später, am 17. November, kamen zwei zivile Geheimdienstbeamte und 13 schwer bewaffnete Soldaten des Sondereinsatzkommandos mit vier Geländewagen vorgefahren und nahmen ihn fest.“ Noch ungesichert ist die Information, daß im Zuge des Falles Six zwei weitere Männer verhaftet worden sein sollen: Sie sollen Billy Six eine Kreditkarte verschafft haben.
Mahnmal für den Sturz eines Landes
Lorent Saleh (heute 30) war 26 Jahre alt, als er 2014 in Kolumbien verhaftet und an Venezuela übergeben wurde. „Es tut uns sehr leid, was Billy passiert“, sagt Saleh dieser Zeitung. „Das Regime versucht, Billy mit dem Vorwurf zu belasten, er sei ein Spion. Ich weiß sehr gut, wie sich das anfühlt. Ich habe all das auch durchgemacht.“ Der Aktivist aus der venezolanischen Andenstadt San Cristóbal, der gegen den sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez in der Opposition war, schildert seine vier verlorenen Jahre: „Ich war Student, als ich festgenommen wurde.“ Die Regierung beschuldigte ihn, an einer paramilitärischen Ausbildung teilgenommen und einen Angriff geplant zu haben. Darüber hinaus wurde ihm vorgeworfen, eine rechtsradikale nationalistische Gruppe gegründet zu haben. Er wies die Vorwürfe von sich – erfolglos.
„Der Geheimdienst betreibt in Caracas zwei Gefängnisse. El Helicoide und La Tumba. Das heißt ‘Das Grab’. Ich kam ins zweite. Und da blieb ich 26 Monate. Dann kam ich nach Helicoide, also dasselbe Gefängnis wie Billy Six. Dort hielten die mich 25 Monate fest. Meine Anhörung wurde 52mal verschoben, bis ich schließlich am 12. Oktober 2018 von Maduros Regierung nach Spanien ausgewiesen wurde.“ Von offizieller Seite hieß es, Saleh sei freigelassen worden, weil er suizidgefährdet gewesen sei.
Es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte, daß El Helicoide einstmals als Zeichen des Fortschritts für das südamerikanische Land geplant war. So ist es heute ein Mahnmal für den Sturz eines Landes ins Chaos, organisiert durch ein sozialistisches, inhumanes System.
JF 51/18