Gestern vor 100 Jahren, am 15. März 1917, unterzeichnete der russische Zar Nikolaus II. die Abdankungsurkunde zugunsten seines 12jährigen Sohns Alexej. Der Zarewitsch wiederum verzichtete am Tag darauf auf den Thron. Es war der Anfang vom Ende des feudalen Europas, das eineinhalb Jahrtausende zuvor aus den Ruinen der Spätantike hervorgegangen war.
Seit den dunklen Anfängen der Völkerwanderung waren die Stammesfürstentümer, die Monarchien und schließlich die Imperien das strukturgebende Element der europäischen Ordnung gewesen. Ab dem 16. Jahrhundert eroberte diese Zivilisation die Welt, die Wissenschaft und die Technik. Die Blüte europäischer Kultur um 1900 übertraf alles, was die Menschheit über Jahrtausende hinweg hervorgebracht hatte.
Nie zuvor verbanden sich Vergangenheit und Zukunft in einer Gegenwart von vergleichbarer Dichte, nie zuvor flirrte und schillerte das Jetzt über dem Abgrund zwischen zwei Epochen, die ungleicher nicht hätten sein können: Mensch und Masse; Ästhetik und Vulgarität; Krieg und Frieden. Das Neue, die Relativitätstheorie, Braque, Picasso und Duchamps, Dadaisten und Kubisten – was wegweisend wurde für das neue Jahrhundert, war längst in der Welt, als Nikolaus jenes Dokument unterschrieb. Was danach kam: Epigonen.
Besinnen auf die eigene Tradition
Vier Imperien stürzten in rascher Folge, nach dem russischen das deutsche, dann das österreichisch-ungarische, schließlich das osmanische. Bald stritten Pöbel und Bürgertum um die Macht. Rußland hadert bis heute damit, wie man deren Übergang ohne erbliche Legitimation zur Routine werden läßt. Nach zwei mörderischen Kriegen schufen die europäischen Staaten sich funktionierende Selbstverwaltungen – Demokratien.
Gegen Ende des Jahrhunderts wurden daraus Massendemokratien. Die alte, die eigentlich europäische Gesellschaft fiel dem Vergessen anheim. Ein Zurück gibt es nicht. Die Globalisierung besorgt den Rest. Wenn der russische Außenminister Sergej Lawrow heute vom post-westlichen Zeitalter spricht – vor 100 Jahren im kaiserlichen Eisenbahnwaggon auf den Gleisen der westrussischen Stadt Pskow, deutsch Pleskau, wurde der Grundstein dafür gelegt.
Doch was geschieht derweil? Die nicht-europäischen Nationen besinnen sich auf ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Traditionen. Dabei wird ihnen bewußt, daß sie an Seniorität – China, Iran, Indien – den Westen locker ausstechen. Die orientalischen, asiatischen Zivilisationen sind zwei-, dreimal so alt. Noch eine Generation, wenn überhaupt, dann hat „der Westen“ jede Autorität verloren.
Toleranz-Ideologie der „Progressiven“
Was nicht heißen soll, daß man sich ungern aus der Konkursmasse bedient. Technik, Handwerk, Luxus, Mode … genauso Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechte. Es ist anzunehmen, daß die gesellschaftlichen Errungenschaften im Gefolge der europäischen Aufklärung um so wirksamer werden, je weniger die Europäer sie missionarisch in die Welt hinaustragen. Wahrscheinlich wird Europa als Machtfaktor überhaupt verschwinden müssen, bevor die „europäischen Werte“, so es denn solche gibt, in der nicht europäisch kolonisierten Welt Wurzeln schlagen.
Wir Europäer, die wir immerhin noch existieren, sollten uns im Gedenken an die Ereignisse vor hundert Jahren vergewissern, was es zu bewahren, was es zu verteidigen gilt: Recht, Ordnung und Gerechtigkeit, Respekt und Anstand, die bürgerliche Zivilisation. Das ist deutlich mehr als die satte, gleichgültige Toleranz-Ideologie der „Progressiven“. Deren Ziel ist die ungehemmte Ego-Autonomie, der Traum aller Revolutionäre. Solche Kräfte von der Macht fernzuhalten ist die Aufgabe jedes Europäers, der seiner Zivilisation ein langes Leben wünscht.