Die deutsche Verfassung enthält eine in keiner anderen Demokratie zu findende Bestimmung: ein Recht auf Widerstand. In Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes heißt es, „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.
Während viele Juristen die praktische Anwendung des Absatzes für völlig ausgeschlossen halten, drängt sich angesichts Euro-, Asyl- und auch Rechtsstaatskrise der Gedanke auf: Kann es sein, daß „diese Ordnung“ wenigstens in Teilen zu einer anderen mutiert und unser Bild des Abgeordneten gar nicht mehr stimmt? Eine Provokation.
Die frühere Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, schildert einen bezeichnenden Vorfall aus der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Das Stimmungsbild der Fraktion zur geplanten Kaufprämie für Elektroautos sei eindeutig negativ gewesen. „Sprachlos oder empört“ hätten die Abgeordneten Stunden später erfahren, daß die Regierung über alle Köpfe hinweg die Kaufprämie einführte.
Das Parlament wird übergangen
Steinbach führt weitere Fälle an, bei denen das Parlament von Kanzlerin Angela Merkel und dem Kabinett übergangen wurde. Von der Energiewende bis zur Einwanderung von Millionen Fremden: Es gab nie einen Bundestagsbeschluß. Man könnte weitere Fälle anführen wie die Abschaffung der Wehrpflicht, Handeln ohne Gesetz oder das rückwirkende Inkraftsetzen von die Bürger belastenden Bestimmungen.
Die CDU-Abgeordnete zieht den Schluß: „Für nachfolgende Generationen ist erkennbar, daß das höchste parlamentarische Beschlußorgan des Landes mit seinen Mitgliedern in dieser für Deutschland elementaren Frage stillschweigend abgedankt hat.“
Nur in dieser Frage? Der Sozialforscher Wolfgang Streeck meint, es habe eine „Transformation des Amtes des Bundeskanzlers in eine Art persönliche Präsidentschaft“ von Angela Merkel stattgefunden. Für Streeck wird das Wendemanöver durch das Parlamentsrecht erleichtert, „das es dem Kanzler erspart, wie der britische Premierminister viermal in der Woche dem Oppositionsführer gegenüberstehen zu müssen, um sich von ihm ins Kreuzverhör nehmen zu lassen; in Deutschland tritt an die Stelle der Prime Minister’s Question Time die Plauderstunde mit Anne Will.“
„Autoritärer und anmaßender Regierungsstil“
Der frühere CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Werner Münch, inzwischen aus seiner Partei ausgetreten, erkennt einen „autoritären und anmaßenden Regierungsstil“. Das sei aber nur „die eine Seite der Medaille. Das viel größere Problem liegt darin, daß die Abgeordneten gegen die Mißachtung ihrer Befugnisse nicht aufbegehren.“ Wenn Münch recht hat, ist der Weg von einem „autoritären Regierungsstil“ bis zu einem autoritären System nicht mehr weit.
Theoretisch ist alles klar geregelt. Nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes sind die Bundestagsabgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Weitere Artikel regeln, wie sie die Gesetze zu beschließen haben.
Die Realität ist längst eine andere. Rund 50 Prozent der Gesetze, so schreibt Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber, sind in die Kompetenz der Europäischen Union übergegangen. Es sind die wichtigen Politikbereiche, die dem Bundestag aus den Händen genommen worden sind. Der Bundestag muß die aus Brüssel kommenden Richtlinien eins zu eins umsetzen. Zu ändern haben die Abgeordneten nichts, Ablehnung wäre ein Verstoß gegen europäisches Recht.
Bundesregierung übernimmt parlamentarische Rechte
Huber beschreibt, wie die Bundesregierung selbst zum Gesetzgeber wird und frühere parlamentarische Rechte übernimmt: Die Regierung sei über den Europäischen Ministerrat „zudem Gesetzgeber; als solcher kann sie Bundestag und Bundesrat nicht nur binden, sondern Angelegenheiten, die sie unter den scharfen Augen der nationalen Öffentlichkeit nicht verhandeln will, über die europäische Bande spielen. Die Beispiele sind Legion.“
Das Europäische Parlament ist keine Alternative. Es ist „nicht imstande, wirkliche demokratische Legitimation zu vermitteln“, stellte der Staatsrechtler Rupert Scholz schon 2013 fest. Bei der Schaffung des Euro-Rettungsfonds seien für den Bundestag allenfalls „scheinlegitimierende Demokratie-Krücken“ eingebaut worden. Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof weist auf die EU-Eigendynamik hin, „die immer weiter auf Kompetenzzuwachs und Vergemeinschaftung drängt“. Der Zug zu mehr Integration sei immer unterwegs und ohne Ziel.
Die Rolle des Abgeordneten hat sich vor diesem Hintergrund merklich gewandelt. Er kontrolliert die Regierung nicht mehr. Eine Opposition wird bei der Umsetzung von Richtlinien nicht mehr gebraucht; sie ist sinnentleert. Vielmehr nehmen Bundestagsabgeordnete (und vergleichbar auch Landtagsabgeordnete) heutzutage die Rolle mittelalterlicher Landvögte ein, die die Regionen für den König oder die Königin kontrollieren und ruhig halten.
Das System funktioniert
Abgeordnete bedienen die regionalen Medien, sorgen in den Parteigremien für Ruhe, beherrschen den regionalen öffentlichen Raum und werden mit Personal, Diäten und einer üppigen Altersversorgung entlohnt. Wer der Regentschaft besonders gut den Rücken freihält, wird Parlamentarischer Staatssekretär und bekommt noch mehr Geld und Rente sowie einen Dienstwagen mit Fahrer.
Wahlen spielen übrigens keine Rolle. Sollte einer der Landvögte dem Kollegen der anderen Partei unterliegen, sieht man sich trotzdem in Berlin wieder. Der unterlegene Bewerber rückt über die Reserveliste wieder ein. Bei kleineren Parteien kommen fast alle Bewerber über die Liste. Abgesehen vom FDP-Ausrutscher 2013 funktioniert das System.
Gefährlich wird es für dieses fein austarierte Privilegien- und Pfründensystem, wenn neue Konkurrenten an die Fleischtöpfe wollen und Abwahl und Armut in jungen Jahren drohen. Dies kann bei der Bundestagswahl verhindert werden, indem der Bundestag aufgebläht wird – von 630 auf 700 und mehr Abgeordnete. Aufgrund des komplexen Wahlrechts ist diese Größe bei einem AfD-Erfolg sehr wahrscheinlich. Dann fällt niemand aus dem System heraus und alles bleibt, wie es ist.
Da keine Partei bisher bereit ist, das Wahlrecht zu ändern, wird es im Herbst 2017 genau so kommen. Der dann gewählte Bundestag würde zwischen dem chinesischen Volkskongreß (2.987) und der nordkoreanischen obersten Volksversammlung (687) liegen – und damit auch dem letzten Betrachter demonstrieren, daß Größe kein Beleg für Bedeutung ist.