Am „Lageso“ drängeln sich Hunderte. Wie jeden Morgen. Die Berliner Erstaufnahmestelle für Asylbewerber platzt aus allen Nähten. Mittendrin der Iraker Osman. Ein junger Mann, der wie Tausende andere nach Deutschland gekommen ist in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Er bekam: eine Warteschlange im Matsch, ein Bett im zugigen Hangar und ein Aktenzeichen.
„Sechsmal wurde mein Termin verschoben“, schimpft er. Und: Das Essen sei schlecht. Sanitäre Einrichtungen nicht vorhanden. Das Aufladen des Handys klappe nicht gut im Flughafengebäude.
Auf der anderen Seite die überlastete Berliner Verwaltung. Asylbewerber werden schon jetzt überall untergebracht: in Turnhallen, in Privatunterkünfte, in Hostels. Selbst in leerstehenden Einkaufszentren und im 2014 stillgelegten Kongreßzentrum ICC wird die Einquartierung derzeit geplant. Die Kosten wachsen dem Senat über den Kopf. Er soll auf unbezahlten Rechnungen von 200 bis 300 Millionen Euro, darunter 25 Millionen nur für Heimbetreiber, sitzen.
Die chaotischen Szenen am Lageso – Abkürzung von Landesamt für Gesundheit und Soziales – stehen symbolhaft nicht nur für die verfehlte Politik der Berliner Landesregierung, die nicht weiß, wohin mit all den Asylbewerbern – und dennoch weitere aufnimmt. Die Brandenburger Regierung hat schon mehrfach gesagt, sie wolle nicht noch mehr Asylbewerber. Berlin hat sie dann genommen. Hier verdichtet sich alles, was in Deutschland schiefläuft im Umgang mit der Asylkrise. 44 Prozent der Berliner sind überzeugt, daß die Asylwelle unser Land überfordert.
Großer Unmut bei Berlinern, Beamten und selbst unter Asylbewerbern
Der Unmut steigt nicht nur unter den Berlinern und bei den Asylbewerbern. Auch in der Exekutive macht sich Frust breit. Gleich drei von ihnen – ein Polizist, ein leitender Verwaltungsbeamter und eine Person mit Zugang zum politischen Führungszirkel – haben sich der jungen freiheit anvertraut und über Mißstände berichtet. Nicht für jede der teilweise haarsträubenden Informationen ließ sich eine Bestätigung finden. Aber auch die Dinge, die offensichtlich sind oder über die mehrere Quellen unabhängig voneinander berichten, sind ungeheuerlich.
Der Geheimplan. Mindestens einmal in der Woche tritt eine große Runde bei Sozialsenator Mario Czaja (CDU) in der Oranienstraße in Kreuzberg zusammen. In dieser „großen Lagebesprechung“ sitzen Czaja, die Bezirksbürgermeister und Staatssekretäre mit ihrer jeweiligen Entourage zusammen. Dazu kommen häufig noch Verbändevertreter aus der Sozialindustrie und ein Vertreter des Lageso. Unter dem Arbeitstitel „13. Bezirk“ arbeitet die Verwaltung der Stadt an der Bewältigung der Asylkrise.
Dieser 13. Bezirk wird von langer Hand geplant. Mit allem, was dazugehört: Infrastruktur, Kindergärten, Schulen. Als Grundlage dienen die aktuellen Schätzzahlen für 2015 von 80.000 Asylbewerbern, multipliziert mit dem Faktor vier durch den Familiennachzug.
Mit anderen Worten: Berlin (3,4 Millionen Einwohner) bereitet sich auf den Neuzugang einer Großstadt wie Bielefeld (328.000) vor. Und zwar in den kommenden Monaten. Bei Minderjährigen Asylbewerbern werde der Zuzug sogar forciert, berichtet ein Teilnehmer aus der Runde beim Senator.
Bis zu 20.000 Asylbewerber sind für Tempelhof vorgesehen
Zentrale Überlegungen ranken sich um den Flughafen Tempelhof. Er ist die bequemste Lösung für die Berliner Politiker. Wenn sie nicht zwangsweise Asylbewerber bei Bürgern oder in Gartenlauben einquartieren wollen, dann werden sie diese 386 Hektar bebauen müssen. Was geht, wurde bereits in die Wege geleitet. Die Hangars sind voll mit Flüchtlingen wie Osman. Jetzt wird die Bebauung am Rand geplant. Bis zu 20.000 Leute werden fürs erste dort untergebracht. Landvermesser sind bereits auf dem Gelände.
Die Lage ist klar: Die Freifläche ist wie gemacht, um eine neue Stadt aus dem Boden zu stampfen. Das Problem ist: Der Senat, der den Flughafen 2008 gegen den erklärten Willen der Berliner stillegen ließ, hat 2014 eine Volksabstimmung verloren. Die Bebauung ist ihm untersagt. Der Senat würde gegen geltendes Recht verstoßen.
Die Rechtsbrüche. Möglicherweise findet der Senat einen Weg, das Tempelhof-Gesetz legal zu ändern. Eine für diese Woche anberaumte Abstimmung dazu wurde ins nächste Jahr verschoben. Aber es wäre nur einer von zahlreichen Rechtsverstößen.
Es gibt viele andere. Schwarzfahren zum Beispiel. Ein Berliner zahlt 2,90 Euro für eine Standardfahrt mit Bus und Bahn und rund 80 Euro für eine Monatskarte. Asylbewerber nichts. Im Oktober beschloß der Senat, daß unregistrierte Asylbewerber kostenfrei mitfahren dürfen. Registrierten werden 26 Euro vom Taschengeld abgezogen. In der Regel reicht das Vorzeigen des Bändchens, das Asylbewerber erhalten.
Diese Bänder werden untereinander weitergegeben. Eine Überprüfung, wer zu Recht kostenfrei mitfährt, ist unmöglich. So wie eine Überprüfung unmöglich ist, ob jemand mehrfach registriert wurde. Es gibt zwar die Erfassung der Fingerabdrücke, aber der Kontrollaufwand wäre zu hoch, wenn alle abgeglichen würden. „Das geht nur in TV-Serien“, versichert der Polizist.
Auch auf der Seite der Beschaffung gelten keine Regeln mehr. „Vergaberichtlinien hält niemand ein“, sagt einer, der beim Lageso für die Ausstattung von Heimen zuständig ist. „Eine Turnhalle mit Holzplatten auslegen für 26.000 Euro – kein Problem.“ Mit einem Federstrich wird beauftragt, wofür früher mehrere Angebote eingeholt worden wären. 300 Betten bei Ikea hier, 500 beim Dänischen Bettenlager dort. Es wird gekauft, was das Zeug hält.
Bezirke und Land konkurrieren um Wohnraum
An der Front. Das Gegenteil von der Strategierunde beim Senator ist die Abwicklung vor Ort. Dafür sind der Landesweite Koordinierungsstab Flüchtlingsmanagement (LKF) und die Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL) verantwortlich. Kurz gesagt: Der LKF (etwa 25 Mitarbeiter) meldet der BUL (etwa 80 Mitarbeiter) den täglichen Bedarf an Betten. Die BUL kümmert sich dann um die Beschaffung. Alle Beteiligten berichten übereinstimmend, daß die Verantwortung von den Chefs auch wegen der Unklarheiten gern nach unten weitergegeben wird. Keiner will am Ende derjenige sein, der für eine Fehlentscheidung – nicht zuletzt wegen der vielen Verstöße gegen Vergaberichtlinien – zur Rechenschaft gezogen wird. „Am Ende wird das nur wieder dieKleinen treffen“, befürchtet ein Lageso-Insider, „während ein Senator schlimmstenfalls bei vollen Bezügen abtritt“.
Ein neuer sozialer Brennpunkt der Extraklasse
Die Kosten. Angebot und Nachfrage bestimmen den Marktpreis. In bezug auf die Unterbringung von Asylbewerbern steigt der Preis logischerweise. Mußte der Senat vor Jahresfrist etwa 15 Euro pro Person und Tag berappen, so werden nach dieser Insider-Schätzung inzwischen 50 Euro und mehr fällig. Was nicht zuletzt daran liegt, daß sich Senat und Bezirke gegenseitig das Wasser abgraben: So hat ein Anbieter einen Vertrag mit dem Senat für 40 Euro storniert, weil ihm ein Bezirk 50 Euro für die Unterbringung geboten hat. Den Nachteil bei diesem Überbietungswettbewerb hat der Steuerzahler: Der Lageso-Insider schätzt, daß ein Asylbewerber in der Summe Berlin bis zu 2.000 Euro pro Monat kostet.
Planung #NUK #THF sieht 12.000 bis 20.000 Menschen vor. Sicherheitspolitischer und menschenunwürdiger Wahnsinn! #GdP https://t.co/nxslQ3msI6
— GdP Direktion 4 (@GdP_Dir4) 29. November 2015
Und der Nutzen? Arbeitslose Ausländer werden von Berliner Jobcentern als „neue Potentialträger“ bezeichnet. Eine euphemistische Wortschöpfung wie aus einem rechtskonservativen Kabarettstück. Tatsächlich ist die Wirtschaft eher skeptisch, was die Qualifikation der Zuwanderer angeht: 54 der Berliner Unternehmer gaben in einer Umfrage an, daß sie nicht glauben, daß die Neu-Berliner einen wertvollen Beitrag leisten werden.
Alles in allem schlechte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration der derzeit 65.000 Asylbewerber in Berlin. 5.000 bis 6.000 von ihnen sollen Mitte Dezember bereits im Flughafen wohnen. Dort entsteht ein neuer sozialer Brennpunkt der Extraklasse.
Einen ersten Vorgeschmack auf das, was noch kommen könnte, gab es am letzten Novemberwochenende. Eine dreistellige Zahl Bewohner lieferte sich eine wüste Schlägerei an der Essensausgabe. Scheiben gingen zu Bruch. Bänke wurden geworfen und Feuerlöscher leergesprüht. Zwei Wachleute wurden verletzt. 14 Asylbewerber mußten von den anrückenden 80 Polizisten festgenommen werden.
Bild enthüllte später den Grund für die Keilerei: Das Wachpersonal habe die Anweisung gegeben, Frauen zuerst zu bedienen. Das hätten sich die männlichen Bewohner nicht gefallen lassen. „Wir schrien alle nein, nein, nein. Die Security schloß daraufhin die Türen zur Essensausgabe“, sagte ein syrischer Augenzeuge. Die Situation sei dann eskaliert.