Deutsche und Russen verbindet ein besonderes Verhältnis: Zwei große Völker, die den eurasischen Großraum weit über ihr angestammtes Siedlungsgebiet hinaus geprägt haben, im Fruchtbaren wie im Verderbenbringenden.
Jene Epochen in der Geschichte, in denen Preußen beziehungsweise Deutschland und Rußland in gutem Einvernehmen standen, waren prosperierende Zeiten für beide; Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen bedeuteten Unheil nicht nur für Deutsche und Russen, sondern für ganz Europa.
Wladimir Putin mag jenseits der tagespolitischen Taktik auch solche Einsichten im Hinterkopf gehabt haben, als er am Tag nach der bombastischen Siegesparade zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs gegenüber der Bundeskanzlerin erklärte, Deutschland sei, Ukraine-Konflikt hin oder her, „Partner und Freund“ Rußlands, man habe „dort immer Freunde und Anhänger“ gehabt. Und die Sowjetunion habe im letzten Krieg auch nicht gegen Deutschland, sondern gegen den Nationalsozialismus gekämpft.
Das entspricht zwar nicht unbedingt den historischen Realitäten und erinnert kaum zufällig an Stalins Diktum „die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“, ist aber gleichwohl ein geschichtspolitisches Angebot, das ein Miteinander im schicksalhaft geteilten geopolitischen Raum einschließt, ohne die eigene Identität zu leugnen.
Merkel kann mit Putins Signalen nichts anfangen
Putins zweiter Brückenschlag, Deutschland – als Nation – sei „selbst das erste Opfer“ des Nationalsozialismus gewesen, läßt sich auch als Schlußstrich-Angebot und Absage an moralische Kollektivschuld-Erpressungsversuche lesen und hebt sich insofern vom sonst üblichen „Befreiungs“-Geklingel ab.
Alexander Solschenizyn pflegte übrigens jeden Versuch, sowjetische Verbrechen an anderen Völkern „den Russen“ anzulasten, damit abzuweisen, daß Rußland das erste Opfer des Bolschewismus gewesen und von diesem, sittlich und geistig mehr noch als materiell, am schlimmsten verwüstet worden sei.
Eine Angela Merkel, die nicht in Bismarcks Schuhen steckt, sondern in amerikanischen Leihpantinen, kann offenkundig mit solchen Signalen wenig anfangen. Schon ihre Ablehnung der Einladung zur Militärparade war eine zwar richtige, aber aus den falschen Gründen getroffene Entscheidung. Nicht – was in Rußland wohl jeder verstanden und respektiert hätte – weil der Repräsentant der Besiegten von damals auf einer Siegesparade nichts verloren hat, sondern weil US-Präsident Obama die Parole ausgegeben hatte, das bombastische russische Schauspiel wegen der Ukraine-Krise zu boykottieren.
Schade um die vertane Gelegenheit
Wie um dem Herrn und Meister jenseits des Atlantik zu beweisen, daß die deutsche Regierungschefin mit ihrer einen Tag später vorgenommenen Reise zu Totenehrung und Gesprächen mit dem russischen Präsidenten nur ja keine eigenständige Politik im Sinn habe, bezeichnete Merkel während der Pressekonferenz in Gegenwart Putins die „Annexion“ der Krim als „verbrecherisch und völkerrechtswidrig“.
Ein unblutig verlaufener geostrategischer Schachzug, bei dem Moskau zwar Strippen gezogen hat, der aber dem Mehrheitswillen der betroffenen Bevölkerung entsprach – „verbrecherisch“? Wie müßte man in diesem Koordinatensystem wohl den mit frei erfundenen „Beweisen“ von den USA vom Zaun gebrochenen Irakkrieg mit seinem mutwillig angerichteten Chaos und seinen Totenbergen einordnen?
Schade um die vertane Gelegenheit. Nach Washington buckeln und die Spionage der US-Dienste gegen Deutschland, das sie wie eine Kolonie behandeln, unter den Teppich kehren, aber in Moskau in einem politischen Tourette-Anfall mit verbalen Kraftmeiereien um sich schlagen, ist schlechter Stil und kleingeistige Vasallenmentalität.
Mehr Ehrlichkeit und weniger hohle Worte
Es entwertet auch die an sich gute Geste, gemeinsam die Kriegstoten zu ehren, die Siegern und Besiegten gut ansteht. Außenminister Steinmeier hatte dafür den besseren Ort gewählt, als er letzte Woche mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow bei Stalingrad/Wolgograd einen Soldatenfriedhof mit russischen und deutschen Kriegergräbern besuchte.
„Es gab ja keine einzige Familie, in der nicht jemand gefallen ist“ – was Wladimir Putin in einem bemerkenswerten, am 7. Mai in deutscher Übersetzung in der FAZ veröffentlichten Text zum 70. Jahrestag des Kriegsendes schreibt, ist auch so eine Erfahrung, die Deutsche und Russen gemeinsam haben.
Putin zitiert in seiner Betrachtung seine Mutter, die – zu seiner Verwunderung – trotz aller Propaganda aus sowjetischen Büchern und Filmen keinen Haß gegenüber dem Feind, den Deutschen, empfunden habe: „Wie soll man diese Soldaten hassen? Es waren einfache Leute, und sie sind auch im Krieg gefallen.“ Er habe sich ihre Worte eingeprägt: „Was will man denn von ihnen? Sie waren fleißige Arbeiter wie wir auch. Man hat sie einfach an die Front getrieben.“
Mehr Ehrlichkeit und Empathie und weniger hohle Worte sind der Schlüssel zur Versöhnung. Auf allen Seiten.