Die Entstehung des politischen Koordinatensystems zwischen links und rechts läßt sich auf den Tag genau datieren. Am elften September 1789 setzte sich in der französischen Nationalversammlung eine Gruppe Abgeordneter zur Linken des Parlamentspräsidenten, um so auch physisch ihre ideologische Richtung zum Ausdruck zu bringen. Die anderen blieben rechts sitzen. Von den rechts wie links sitzenden Herren des Hohen Hauses haben nicht viele die folgenden revolutionären Jahre überlebt, das Orientierungsmuster blieb.
Natürlich sind die Linken von heute keineswegs mit den linkssitzenden Liberalen von 1789 zu vergleichen. Bereits ein paar Revolutionen später, 1848, war diese Linke schon rechts auf dem politischen Spektrum zu finden, ohne ihre politische Einstellung geändert zu haben. Denn das ist Frankreich: Seit der „notwendigen Plage der Revolution“ (Joseph de Maistre) tanzen Legitimisten und Liberale, Monarchisten, Sozialisten, Kommunisten und Bürgerliche, Konservative und auch ein paar Christdemokraten ein graziöses Menuett im Kammerton politischer Reformen. Die Mitte aber blieb ein Phantom.
Eine politische Vielfalt ohne klare Mitte
Diese Vielfalt ohne Mitte durchzieht die Wahlen in Frankreich, dazu paßt auch das Mehrheitswahlrecht, das den schwungvollen Dreh nach rechts oder links ermöglicht – innerhalb des sozialistischen und bürgerlichen Establishments. Die Stichwahlen verhindern, daß eine Partei außerhalb der großen Formationen entweder die bürgerliche UMP von rechts oder die Sozialistische Partei von links in die Mitte schiebt. Auch der Versuch, in der Mitte selbst sich zu etablieren, ist bisher immer fehlgeschlagen.
Das ist das Novum der jüngsten Kommunalwahlen: Abgesehen vom Schwenk nach rechts, der die Linksparteien mehr als 150 Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern kostete, hat sich zum ersten Mal in der Fünften Republik mit dem Front National eine Partei in der Fläche verankert. Der FN holte ein Dutzend Kommunen und mehr als 1.300 Gemeinderäte. Wer die Geschichte der Linksparteien und ihre mühsame Verankerung in der Provinz über ein Jahrhundert betrachtet, der mag ermessen, daß hier das Land politisch umgepflügt werden könnte. Es war dieses Netz in der Fläche, die breit angelegte Einpflanzung in Dörfern, Gemeinden und kleinen Städten, die der Linken immer wieder das Überleben erleichterte und die Mitterrand die längste Amtszeit der Fünften Republik (14 Jahre) bescherte.
Bei der Europawahl könnte der Front National triumphieren
Diese Verankerung in der Provinz ist gerissen. Das Schiff schlingert. Lose Kanonen rollen in Form von Drohungen und Parolen über die Parteiplanken. Noch übt die Drohung einer erneuten Niederlage bei den Europawahlen disziplinierende Wirkung aus. Nur: Bei diesen Wahlen gilt das Verhältniswahlrecht. Es ist möglich, daß der Front National mit den großen Parteien gleichzieht oder sie gar überholt. Präsident Hollande setzte zwar nach dem Erdrutsch bei den Kommunalwahlen auf die Popularität seines Innenministers und ernannte ihn zum Premier. Aber Popularität ist kein Programm. Ohne radikalen Kurswechsel der Politik wird die „blaue Welle“ – das ist die Farbe der Bürgerlichen und Rechten in Frankreich – das Schiff der Linken zum Kentern bringen. Den Wechsel muß man messen können, präsidiale Worte allein schaffen keine Glaubwürdigkeit mehr.
Die Zahl der Arbeitslosen und Unternehmenspleiten steigt stetig – trotz der Versprechen Hollandes. Das Staatsdefizit liegt ebenfalls höher als versprochen – trotz der Beschwichtigungen des Finanzministers. Und die Unsicherheit im Land ist auch im Steigflug – trotz der Interpretationskünste des ehemaligen Innenministers und jetzigen Premiers. Das sind die Eckdaten für Manuel Valls. Hier muß er sich beweisen. Gelingt es ihm nicht, wird die „blaue Welle“ zum politischen Tsunami für die Linken. Ex-Premier Raffarin sagte es schon am Wahlabend bündig: „Gestern war das Volk nur enttäuscht, jetzt ist es wütend, morgen kommt die Revolte.“
Überall hat die Linke Mandate und Pfründe zu verlieren
Der neue Premier ist ein liberaler Sozialdemokrat, er soll Volk und Partei nun beruhigen. Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Bei den Europawahlen am 25. Mai wird sich nicht nur der Frust über die Regierung Hollande niederschlagen, dann wird vor allem programmatisch gewählt. Wenn Valls bis dahin nicht ein paar Gesetze auf den Weg gebracht und medial die sozialliberale Flagge aufgezogen hat, werden diese Wahlen zum Desaster Nummer zwei. Europa ist weit weg, man kann weit ausholen. Im September schon wird der Senat neu gewählt, im nächsten Jahr die Regionalparlamente. Überall hat die Linke Mandate und Pfründe zu verlieren. Der linksradikale Flügel des Parteienspektrums ist in Aufruhr. Valls spalte die Linke, meint der Linksextremist Mélenchon. An die hundert Abgeordnete sind zur Meuterei bereit. Die Grünen verweigerten sich schon bei der Regierungsbildung. Die Unruhe in den eigenen Reihen wächst. Und im Parlament hat die Sozialistische Partei allein nur eine hauchdünne Mehrheit. Sie ist auf die anderen linken Parteien angewiesen.
Hollandes großes Vorbild, François Mitterrand, setzte nach der verlorenen Kommunalwahl 1983 auf eine neue Politik. Er riß das Ruder in der Wirtschafts- und Finanzpolitik herum und wollte das linke Wahlvolk mit einer Schulreform besänftigen. Es kam zu einem Gesellschaftskonflikt mit einer Großdemonstration von mehr als einer Million aufgebrachter Bürger. Diesen Konflikt hat Hollande schon erfahren, er kann sich weitere Millionendemos in Paris und in der Provinz nicht leisten. Ihm läuft die Zeit davon. Valls ist die vorletzte Patrone des Präsidenten. Danach kommt nur noch die Auflösung des Parlaments. Im Elysée weht ein Hauch von Wagenburg.
JF 16/14