Zum ersten Mal seit Tagen scheint die Sonne. Feodosija, Ostküste der Halbinsel Krim: Im Hafen ankern russische Schiffe. Seit Jahren dort die Normalität. Wem gegenüber die bisher ukrainischen Seeeinheiten loyal sind, darüber herrscht Ungewißheit. Die Passanten an der Küstenpromenade zucken mit den Schultern. Sie gehen arbeiten und einkaufen. So wie immer. So als gäbe es keine internationale Krise um diese Landzunge im Schwarzen Meer. Im Ufer-Park sind Steinbüsten sowjetischer Admiräle aufgestellt. Ein merklich angetrunkener Mann wirft mir wüste Schimpfwörter entgegen, will Rucksack und Paß in Augenschein nehmen.
Mit angespanntem Gesicht verpaßt er mir einen Faustschlag in den Bauch. Der Schmerz hält sich in Grenzen, denn für eine koordinierte Attacke ist der Alkoholspiegel dieser armen Seele zu hoch. Der massive Wodka-Konsum, der bereits am frühen Morgen in vielen Wohnhäusern und Bars beginnt, offenbart einen der Unterschiede russisch geprägter Orte zum westukrainischen Lemberg. Und noch etwas: Statt ihren Gast zu beschützen, sind meine Begleiter, die beiden 18jährigen Freunde Andrej und Dmitrij, lieber auf Abstand gegangen. Der Betrunkene grölt derweil laut: „Der Ausländer hat Granaten im Rucksack!“
Die Nerven liegen blank
Paranoia und Konfusion bestimmen derzeit das Geistesleben auf der Krim. Die Angst vor den „Faschisten in Kiew“ und einer „amerikanischen Verschwörung“ beschäftigt die Menschen. Russische Fernsehsender heizen diese Stimmung an. „Smile“, hat ein Unbekannter auf eine Hauswand gesprayt. Doch es wird weder gelächelt, noch gegrüßt. Die Passanten geben sich dem Trübsal hin. Andrej und Dimitri erzählen gerne, welche Hoffnungen sie als Informatik-Studenten mit der EU verbinden: Vor allem lukrative Jobs und Reisefreiheit. Doch sogar die eigenen Eltern denken anders. Zu Hause verheimlichen die Söhne, den „Maidan“ in Kiew besucht zu haben. Immerhin: Dimitris Vater Fedor stellt sich einem Gespräch. „Ich bin Ukrainer“, sagt er, „doch meine Seele liegt in Russland.“ Mit der katholisch geprägten Westukraine habe das Leben im Südosten des ukrainischen Staatsgebietes gar nichts gemein, so Fedor. „Mentalitätsunterschiede“, sagt er nur knapp.
Eine Erläuterung fällt ihm schwer. „Das sind Nationalisten. Sie wollen uns verbieten, Russisch zu sprechen. Und das, obwohl es eine ukrainische Nation nie gegeben hat.“ Die (ost-)ukrainische Stahl- und Kohle-Industrie sei darüber hinaus eng mit russischen Abnehmern verwoben. Und dies schon seit Sowjetzeiten. Einen freien Wettbewerb mit westlichen Unternehmen könnten die ukrainischen Betriebe nicht überleben, so der Rechner-Techniker. Und die Minderheit muslimischer Krim-Tartaren (zwölf Prozent), so flüstert er, seien nur mit harter Hand unter Kontrolle zu halten. Mit der EU würden zu viele weitere Muslime kommen.
Haß auf Homosexuelle
„Und die Schwulen-Lobby“, donnert Dima. Der 28jährige kräftig gebaute Mann patrouilliert für die „Freiwillige Krim-Armee“, wie er den Hauptposten aus Zelten und Schützenpanzern am Rande von Feodosija nennt. Tatsächlich offenbaren die schwarzen Kennzeichen der Militärlaster, wer hier den Ton angibt: „RUS“, Russland. Oleg, sein gleichaltriger Kamerad, übersetzt mittels neuestem „I-Pad“, was die Männer begeistert: „Du brauchst Dich nicht zu bewegen, und bist am Montag trotzdem in der Russischen Föderation angekommen.“ Am Sonntag sollen die 2,35 Millionen Bewohner der Krim in einem Referendum darüber befinden, ob sie sich künftig Moskau unterordnen oder aber ihrer Provinzregierung mehr Macht innerhalb der Ukraine einräumen – und damit das Recht für die Lokalpolitiker, selbst über einen Beitritt zu Russland entscheiden zu können. Dima: „Putin gibt dem slawischen Volk endlich wieder Hoffnung.“
Gorbatschow, Jelzin und alle ukrainischen Präsidenten seien allesamt Verräter gewesen – und „bidar“, also „schwul“. Es erstaunt immer wieder, welche Abneigung gegen Homosexuelle besteht. Dima weiter: „Die gleichgeschlechtlichen Ehen in der EU sind ein Genozid an den europäischen Völkern.“ Der junge Mann nimmt mich zu sich nach Hause, kümmert sich rührend um meine Sicherheit. In den abgenutzten und unordentlichen Räumlichkeiten eines vermoderten Plattenbaus döst der Vater, ein ehemaliger Sowjet-Militär, vor sich hin. Dima schließt die Zimmertür und zeigt stolz auf seine aus Knete gebastelten Panzer-Modelle. Die nächsten Stunden wird er nur noch trinken und rauchen. Arbeit hat er keine.
„Trinken, trinken, trinken“
„So sind die meisten von ihnen“, klagt Nouri. Der Krimtatar im Rentenalter fährt mich im Auto zur Südküste. „Nur trinken, trinken, trinken. Und nicht arbeiten“, so beschreibt der dreifache Vater sein Bild von den Russen. Sowjet-Diktator Stalin habe Nouris Familie einst nach Usbekistan deportieren lassen, berichtet er. Rache für die vermeintliche Kollaboration mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. „Ich mag die Deutschen“, so Nouri, „aber mit den Nazis hatten wir nie zu tun“. Er verweist auf ein Problem, das ich die letzten Tage oft gehört habe: „Die meisten Russen wollen Euch Deutschen den Krieg nicht verzeihen.“
Nikita, 25jähriger Informatiker in der Provinz-Hauptstadt Simferopol, arbeitet für ein deutsch-ukrainisches „Joint-Venture“: „Die Bruchlinie verläuft zwischen Jung und Alt“, meint er. Die Alten: Pro-Russisch. Die Jungen: Pro-Europäisch. „Deshalb muß Putin jetzt Tatsachen schaffen.“ Jenia, eine von Nikitas Freundinnen, klagt jedoch über die gesellschaftlichen Zustände insgesamt: „In meiner Freizeit gehe ich nicht in die Bar oder hänge vor dem Fernseher ab. Ich mache Kunststücke mit Feuer. Und mein eigenes Umfeld fragt stirnrunzelnd, worin denn da der Sinn liegt.“
Lenin thront weiter in Simferopol
Die beiden nehmen an einer der proukrainischen Demonstrationen in Simferopol teil. Die Polizei ist präsent, es bleibt friedlich. 1.000 Teilnehmer sind es laut „tagesschau.de“. 300 nach eigener Zählung, davon ein großer Anteil internationale Journalisten. „Die Krim ist ukrainisch“ skandieren die letzten kiewtreuen Patrioten mit ihren blau-gelben Fahnen. Die beißende Kälte wird hämisch als „Sibirien-Tief“ kommentiert. Galgenhumor. Viel mehr bleibt diesen Protestlern auch nicht übrig. Unter der Hand berichten sie von „Angst und Hoffnungslosigkeit“ , daß „die Sache ohne Hilfe aus dem Westen gelaufen“ sei. Zwar hat sich auch Simferopol von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch verabschiedet. Aber einer wurde am zentralen Regierungsplatz, anders als in vielen Städten der Festland-Ukraine nicht vom Sockel gerissen: die Statue Lenins.