Wie ist unser Universum entstanden? Woraus besteht es? Was hält alles zusammen? Es sind die letzten Fragen der Physik, es sind zugleich existentielle Fragen der Menschheit. Die Antworten sollen in einem Jahrtausendexperiment geklärt werden. Seit Jahren fiebert die Weltelite der Physiker diesem spektakulären wissenschaftlichen Versuch entgegen. Ort: das Forschungszentrum CERN bei Genf (das Europäische Teilchenphysiklabor). Termin: Frühjahr 2008.
CERN – schon fast ein Mythos. Dan Brown hat es in seinem Thriller „Illuminati“ literarisch beschrieben. Friedrich Dürrenmatt erhob es zur „metaphysischen Versuchsanstalt“, und Hans Magnus Enzensberger nannte es „die größte unterirdische Kathedrale der Physik“. Das Physik-Genie Stephen Hawking war dort schon zu Besuch, Spaniens König Juan Carlos, der Papst und der Dalai Lama.
6.500 Physiker aus achtzig Nationen haben dort in den letzten Jahren an der neuen Versuchsanlage gearbeitet. Es ist ein Projekt der Superlative. Entstanden ist eine Megaröhre, der Large Hadron Collider (LHC), eine ringförmige Anlage, die sich auf 27 Kilometer Länge im Untergrund durch das Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich zieht – in bis zu 150 Metern Tiefe. Ein Stonehenge des 21. Jahrhunderts. Es ist nicht nur der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, es ist die größte Maschine der Welt. Die Organisatoren sagen sogar: „Das ehrgeizigste Wissenschaftsprojekt aller Zeiten.“
Mit ihm will man den Urknall zum zweiten Mal stattfinden lassen. „Diesen Augenblick der Schöpfung wollen wir nachstellen“, so CERN-Chef Robert Aymar. Die Physiker wollen wissen, was Stephen Hawking einmal so formuliert hat: „.. herausfinden, wie und warum das Universum begonnen hat“.
Die Reise zum Ursprung der Dinge findet in bitterster Kälte statt. Die Aluminiumröhren des LHC sind luftleer gepumpt und vollgestopft mit 5.000 Magneten. Flüssiges Helium kühlt sie auf minus 271 Grad Celsius herunter (15mal kälter als Gefriertruhen, nur ein Grad über dem absoluten Nullpunkt). Allein die Stromkosten belaufen sich auf dreißig Millionen Euro im Jahr. Grund für die größte Kühlanlage der Welt: So werden die Magnete supraleitend. Sie jagen dann die Partikel fast mit Lichtgeschwindigkeit durch die Röhren (genau 99,9999991 Prozent – auf gegenläufigen Bahnen).
Die Forscher wollen, wenn der LHC mit voller Leistung läuft, 3.000 Protonenpakete mit jeweils etwa einhundert Milliarden Teilchen mit ihrer Superkanone abschießen. An vier Stellen kreuzen sich die Wege – und dann kracht es! Pro Sekunde werden 600 Millionen Protonen aufeinander prallen. Die winzigen Teilchen kollidieren mit der Wucht eines Jumbojets. In Zahlen: Auf eine Energie von je sieben Billionen Elektronvolt wird der LHC sie beschleunigen. Das entspricht der Temperatur des Universums in der allerersten Billionstel-Sekunde nach dem Urknall (dem Big Bang): mehr als zehn Billionen Grad Celsius.
Die Trümmer werden eine gigantische Menge von Daten produzieren (Energie, Impuls, elektrische Ladung). Vier hochkomplexe Detektoren (je 40 Meter hoch) werden sie analysieren. Sie sind die Herzstücke des LHC, vollgestopft mit Nachweisgeräten, Elektronik und Metall. Ihre Namen: „Atlas“, „Alice“, „CMBS“ und „LHCb“. „Alice“ enthält etwa soviel Eisen wie der Eiffelturm. Ihre Computer entscheiden automatisiert, was wichtig und unwichtig ist. Und trotzdem werden immer noch monströse Datenmengen zu verarbeiten sein. Daher haben die CERN-Forscher „The Grid“ aufgebaut – das größte Rechenwerk der Welt. Zehntausende Computer auf dem Globus werden zusammengeschaltet, um die Datenlawinen zwischenzuspeichern und weiter auszuwerten.
Faustischer Drang der Naturwissenschaften
Und wozu das alles? Es ist die alte Sehnsucht, die Welt im Innersten zu verstehen – ein faustischer Drang. So stieß die Wissenschaft in den letzten 100 Jahren immer weiter und tiefer vor. Auf die Entdeckung der Atome (schon in der Antike bekannt) folgte die des Atomkerns. Der entlarvte sich dann als Anhäufung von Nukleonen (Protonen und Neutronen). Doch die Treppe in den Mikrokosmos ging weiter. Die Nukleonen ihrerseits entpuppten sich als Partikelkonglomerate von Quarks und Gluonen. Der LHC soll nun einen weiteren Vorhang vom Innersten und Tiefsten der Welt beiseite ziehen – vielleicht sogar den letzten, um den heiligen Gral der Physik ans Licht treten zu lassen.
Da ist die Fahndung nach den Higgs-Teilchen, reinen Gespenster-Teilchen. Benannt wurden sie nach dem britischen Forscher Peter Higgs. Bislang sind sie nur Gedankenkonstrukte. Aber sie sind der letzte fehlende Baustein einer fundamentalen physikalischen Theorie (das sogenannte Standardmodell). Dieses bringt Ordnung in die Welt der Elementarteilchen und erklärt deren Eigenschaften. Dem Wissenschaftler, dem dies gelingt, wäre der Nobelpreis sicher.
Da sind die Strings, diese winzigen schwingenden Saiten – bislang reine Mathematik, aber ein äußerst elegantes Modell, das sogar die Schwerkraft erklären würde. Denn diese kann das Standardmodell der Physik nicht deuten, zum Leidwesen der Wissenschaftler. Die Schwerkraft (Gravitation) ist jene Urkraft, die das Universum beherrscht – und unseren Alltag. Das spürt jeder, dem ein Apfel auf den Kopf fällt! Ein simples, doch schmerzhaftes Ergebnis der Gravitation … Allerdings funktioniert die String-Theorie (mathematisch) nur, wenn man einen elfdimensionalen Raum zugrunde legt – eine arge Provokation für unser klassisches Weltverständnis … Wird der LHC also weitere Raumdimension finden?
Dunkle Materie und dunkle Energie
Und da ist die ominöse „dunkle Materie“ im Weltraum. Im Unterschied zur „normalen“ Materie besteht sie nicht aus Protonen und Elektronen, mutmaßt man. Sie unterliege nicht der elektromagnetischen Wechselwirkung. Daher können wir sie auch nicht sehen. Werden die Detektoren des LHC diese geisterhaften Partikel-Wesen einfangen?
Noch geheimnisvoller als die dunkle Materie ist die „dunkle Energie“ im Universum. Es ist jenes Etwas, das unser Universum immer weiter auseinandertreibt und verhindert, daß das All unter seiner eigenen Masse wieder zusammenschnurrt. „Es ist etwas, was wir bislang überhaupt nicht verstehen“, so David Schlegel vom Lawrence Berkeley National Laboratory.
Oder produziert der LHC Hinweise für ein Paralleluniversum? Oder für „Susy“, die Supersymmetrie. (Bisher gibt es sie nur in Formeln. Sie fordern, daß jedes Teilchen sein Spiegelteilchen hat.) Der LHC – eine monströse Maschine auf der Suche nach merkwürdigen Schattenwelten also. Die Wissenschaftler jedenfalls sind optimistisch und voller Anspannung. „Ein neues Goldenes Zeitalter der Physik“ erhofft sich Nobelpreisträger Frank Wilczek. Aber die Forscher stehen auch unter Druck. Denn die Suche nach dem Allerkleinsten erforderte größten ökonomischen Aufwand. Wird nichts gefunden, wird sich in Zukunft kaum eine Regierung bereit finden, ähnliche Projekte zu finanzieren.
Aber es gibt auch Schreckensvisionen. So könnte die Megamaschine irgendwann nicht mehr beherrschbar sein und ein Schwarzes Loch entstehen lassen, das immer größer „wächst“ und zum Schluß wie ein gefräßiges Ungeheuer die Erde und das Planetensystem verschlingt. Der Wiener Physikprofessor Christian Fabjan hält das für ausgemachten Unsinn: „Im All kollidieren Partikelstrahlen mit noch viel größeren Energien mit anderen Teilchen. Und da bleibt die kosmische Katastrophe bisher auch zuverlässig aus.“ Entwarnung! Kein CERNobyl also.
Doch was ist, wenn man bei dieser Reise zum Ursprung der Dinge doch nicht an den Endpunkt kommt, sondern nur in noch mikroskopischere Dimensionen vorstößt? Wenn man die letzte entscheidende Formel doch nicht aufstellen kann, sondern wieder nur eine vorläufige? Wenn wieder neue Fragen erzeugt werden, die neue Modelle und Experimente fordern? Kritiker werfen daher ein, daß das große Spiel der Physiker dem Spiel mit der Matroschka ähnelt: dem „Puppe in der Puppe“-Spiel, wo in jeder Puppe eine noch kleinere steckt.
Und so gibt es schon Überlegungen für eine Nachfolgemaschine für den LHC – wenn auch nur auf dem Papier. Der ILC, der International Linear Collider, soll Teilchen auf einer 35 Kilometer langen Geraden in Fahrt bringen. Baubeginn: 2012. Standort: noch umstritten.