Wildes Geschrei, das Schlimmste vor Augen. Die erste Halbzeit Deutschland gegen Brasilien fällt auf dem Kiewer Maidan ins Wasser. Kurz vor 23.00 Uhr Ortszeit hat ein Sprecher auf der Protestbühne den Anmarsch maskierter Provokateure gemeldet. Die Aktivisten, mit Westen und Schutzschilden ausgestattet, versperren nun vorsorglich alle Zugänge.
Schießerei im Zentrum Kiews
Es ist eine schnelle Reaktion auf die Straßenschlacht in der Nacht von Sonntag auf Montag, zwei Tage zuvor: Das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt hatte die bislang gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit der erfolgreichen Revolution gegen Präsident Janukowitsch im Februar durchlebt. Der Einfall, regelmäßige Raufereien und illegale Zündungen von Sprengkörpern durch eine nächtliche Sperre zu beenden, war gescheitert. Grölend und provokativ durchlief eine Gruppe kräftiger junger Männer, teils mit verdecktem Gesicht, die mit Zelten belagerte Khreschatik-Allee. Ihre Identität – unbekannt. Die „Selbstverteidigungseinheiten“, ukrainisch „Samooborona“, trommelten auf ihren Eisentonnen – Alarm!
Und dann fielen gar Schüsse. Aus den Verbindungsstraßen zu Sophienkathedrale und St.-Michaels-Kloster sei ein Angriff durch etwa 30 Personen mit Pistolen erfolgt, berichteten die mit Brandflaschen bewaffneten Maidan-Aktivisten auf der anderen Seite der Barrikaden. Hier waren nur einige dutzend Kampfbereite postiert – jene, die bei Tage nicht auffallen, darunter auch Frauen in Tarnuniformen. Sie gehörten nicht zu den gebildeten Politaktivisten, die sich sonst gerne mit Journalisten unterhalten. Fäkalworte fielen, eine bedrohliche Stimmung. In zügigem Tempo schleiften zwei kräftige Männer einen Gefangenen in Zivilkleidung aus der Dunkelheit heran.
Klitschko: „Stadtzentrum gefährlich“
Neubürgermeister Vitaly Klitschko hat die Chance genutzt, um seinen Druck auf den post-revolutionären Maidan zu verstärken: Das Stadtzentrum sei mittlerweile „gefährlich“, es häuften sich Beschwerden verängstigter Anwohner. Die Polizei sei von den Demonstranten nicht gerufen worden – nur Rettungswagen. Von vier Verletzten ist die Rede – Angaben zu Personen gibt es nicht. Die Stadtverwaltung hält sich mit offiziellen Stellungnahmen zurück. Immerhin sein Rathaus hat Klitschko wieder unter Kontrolle: Über eine Länge guter 100 Meter sind die Zelte auf der Khreschatik in den vergangenen Tagen abgebaut worden. Die Vertriebenen sind an anderer Stelle untergekommen. Zank gibt es nur um die Duschen.
In den Minuten profaner Alltagsnormalität freuen sich die Ukrainer über den Sieben-zu-eins-Sieg der Deutschen im WM-Halbfinale – „stellvertretend für Europa“. Und doch kritisieren sie die „freundliche Haltung Merkels gegenüber Putin“, die „schwachen Sanktionen des Westens“ gegenüber Moskau. Details wie die im April erklärte Aussetzung der Lieferung von Rüstungsgütern an Russland sind nur einer Minderheit bekannt.
Maidan-Bewegung ist jetzt zersplittert
Im improvisierten Maidan-Pressezentrum des besetzten „COOP-Spilka“-Bürohauses stellen sich die Führer mehrerer Maidan-Hundertschaften rund 40 Reportern. „Das war eine geplante Attacke“, so die Männer in Soldatenkleidung zu den jüngsten Unruhen. „Ziel war es, die Leute des Maidan aus ihrem Umkreis herauszulocken.“ Für die Gerüchte, die neue Regierung bezahle Provokateure für die Schmutzarbeit, gibt es keine Beweise. Aber dass der neue Präsident Poroschenko, der der Maidan-Bewegung sein Amt verdankt, alle Hoffnungen auf einen Vor-Ort-Besuch zerstört hat, spricht für sich.
„Die Leute, die hier nach all den Monaten immer noch kampieren, sollen in den Osten gehen“, meint Danylo Klekh. Der 23jährige Student ist Kopf des Exekutivkomitees der offiziellen Selbstverteidigungskräfte im Ukrainischen Haus am Ende der Khreschatik-Allee. Seine rund 200 Freiwilligen im früheren Kulturhaus hätten mit den „freien Einheiten“ des Maidan nichts mehr zu tun, sagt Klekh zur JUNGEN FREIHEIT. Im Kriegsgebiet, wo die Armee nach der kampflosen Übernahme der einstigen Rebellenhochburg Slowiansk nun die Großstädte Donezk und Lugansk belagert, könnten die Männer sich beweisen. „Dort brauchen wir Hilfe bei der Aufrechterhaltung von Transportadern und den Betrieb von Kontaktbüros.“
Klekh spricht ruhig und nüchtern. Doch aus seiner Abneigung gegen „die verbliebenen Leute, die keiner kennt“ macht er keinen Hehl: Alkoholismus, Obdachlosigkeit oder Familienzwiste würden ihren Hintergrund bestimmen.
Die Kampierenden sind nicht weniger rigoros. Für sie ist Klekh die „Marionette“ seines Vorgängers Andrij Parubij, der seit dem 27. Februar Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats ist. Dennoch ist es kein Zufall, daß frische Aufkleber zu zivilisiertem Verhalten auffordern: „Jedes Schimpfwort und Schlucken von Alkohol ist unbewusste Unterstützung für Putins Regime.“
„Neue Regierung war korrupt wie die alte“
Der 29jährige Informatiker Mikhail Ogorodnikov besucht den Protestplatz fast jeden Tag, um das revolutionäre Engagement zu unterstützen. „Meine größte Angst“, sagt Mikhail, „ist, daß sich das Szenario von 2004 wiederholt. Damals wurde der Maidan geräumt, und die neue Regierung war so korrupt wie die alte.“ Für ihn, der den Aufstand seit November begleitet hat, bleibt die Protestgemeinschaft ein zivilisatorischer Fortschritt: Menschen seien aus der von Eigennutz und Ignoranz geprägten Gesellschaftsrealität geflohen, und hätten ein neues „Wir-Gefühl“ geschaffen, so Mikhail.
Doch auch seine Toleranz kennt Grenzen: Den selbsternannten „Friedensbotschafter“ der Separatisten mag er nicht gerne sehen. Vitaly Petunin, bisher nach eigener Aussage Sportlehrer im russischen Krasnodarsk, spricht von der „Einheit der slawischen Familie, die von der Propaganda amerikanischer Medien zerstört wird“. Er übernachtet in einer notdürftig gezimmert Holzhütte am Rande der Zeltstadt, und verteilt Handzettel, welche von den guten Absichten der Rebellen im Osten überzeugen sollen.
Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU hat ihn kurzzeitig verhaftet – und anschließend ziehen lassen. Überzeugt von seiner Mission, „den ukrainischen Geschwistern zu helfen“, schrecken ihn auch die geschockten Reaktionen der Passanten nicht. Und doch: Niemand wagt es, unhöflich zu sein.
„Verhalten naiver Dodos“
Aktivist Mikhail Ogorodnikov kommentiert mit bitterer Ironie: „Dieser Mensch ist unser Feind, und unsere Leute lächeln ihn an. Das ist das Verhalten naiver Dodos. Und die sind am Ende ausgestorben.“