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Ukraine-Konflikt: Putins hochriskantes Pokerspiel

Ukraine-Konflikt: Putins hochriskantes Pokerspiel

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Putin
Putin
Wladimir Putin: Rußlands Präsident pokert hoch Foto: picture alliance/dpa/Sputnik
Ukraine-Konflikt
 

Putins hochriskantes Pokerspiel

Wladimir Putin ist Judokämpfer, kein Schachspieler. Ein Schachspieler denkt strategisch. Zur Not akzeptiert er auch ein Remis. Ein Judoka jedoch kämpft rein taktisch. Er versucht. die Schwäche und Unaufmerksamkeit des Gegners in einem Überraschungsmoment zu nutzen und ihn jäh niederzuringen. Und: Es gibt kein Unentschieden. Ein Kommentar.
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Wladimir Putin, seit 21 Jahren Alleinherrscher Rußlands, ist Judokämpfer, kein Schachspieler. Ein Schachspieler denkt strategisch. Zur Not akzeptiert er auch ein Remis. Ein Judoka jedoch kämpft rein taktisch, sucht die Schwäche und Unaufmerksamkeit des Gegners in einem Überraschungsmoment zu nutzen und ihn jäh niederzuringen. Und: Es gibt kein Unentschieden.

Zweites Merkmal der Politik des Kremls: Er kann erkannten Schwächen des Gegenübers nicht widerstehen, leidet wie Putin unter den Phantomschmerzen des vor 30 Jahren untergegangenen Sowjetreiches, das er durch Einflußsphären, wie aktuell mit dem destabilisierten Weißrußland und Kasachstan tendenziell wiederherzustellen sucht, um auf Augenhöhe wieder als Weltmacht wahrgenommen zu werden. Und das, obwohl das von Rohstoffexporten lebende, demographisch schrumpfende  Land nur noch das BIP von Spanien hat, also objektiv Mittelmachtniveau.

Nun bietet der Westen für den machtpolitisch denkenden Putin aktuell Schwächen genug. Biden floh Hals über Kopf im September aus Afghanistan, wie zuvor Trump in Syrien ließ er seine Bundesgenossen im Stich und sieht nur noch China als strategischen Rivalen. Die Europäer sind eine Lachnummer, wenn es nicht zum Weinen wäre.

Putin behält sich alle Optionen offen

Macron macht Wahlkampf, in Rom herrscht Polit-Chaos wie üblich, Berlin spielt den moralischen Friedensengel, bietet Kiew zuerst ein Wasserstoff-Zentrum und dann ein Feldlazarett von hohem Abschreckungswert an, und die EU in Brüssel ist sich wie immer uneins und wird deshalb von niemandem machtpolitisch mehr ernst genommen. In London kämpft der Premier ums politische Überleben, schickt aber wenigstens Panzerabwehrwaffen.

Putin behält sich derweil alle Optionen offen. Seit dem vergangenen Frühjahr hat er mittlerweile etwa 125.000 Mann an der Ost- und Südostgrenze der Ukraine und auf der Krim mit schwerem Gerät zusammengezogen, und veranstaltet derweil militärische Übungen im Süden Weißrußlands. Diese Truppen reichen natürlich längst nicht für eine Eroberung und Besetzung einer Nation von 52 Millionen und der Niederringung eines Heeres von 215.000 Mann aus, das freilich schlechter gerüstet ist als das russische.

Im schlimmsten Fall könnte er die beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk formal annektieren (was wenig bringt, weil er sie ohnehin schon kontrolliert), und dann von gesteuerten Milizen „provoziert“ in einem begrenzten Krieg einen Landkorridor entlang des Asowschen Meeres zur Krim erobern, dessen rechte Flanke er aber vermutlich bis zum Dnjepr absichern müßte, im Winter allerdings mit enormen logistischen Problemen.

Es geht um eine glaubwürdige Abschreckung

Gleichzeitig könnte er, wie in seinem Georgienkrieg von 2008 (damals bis vor Tiflis) von Norden aus einen Entlastungsangriff auf Kiew unternehmen, ohne die Stadt jedoch einzunehmen. Niederschwelliger und risikoloser wären natürlich hybride Aktionen (wie die Krim-Annektion von 2014), eine Seeblockade im Schwarzen Meer oder eine Serie von Hackerangriffen.

Wie schon im Kalten Krieg hängt die Friedenserhaltung von der Glaubwürdigkeit einer effektiven Abschreckung ab, obwohl die Ukraine als Nicht-Nato-Mitglied auf keinen militärischen Beistand zählen könnte und in der Stunde der Not allein gelassen würde. Zum einem liefern Briten und die USA trotz russischer Drohungen weiter militärisches Gerät. Die USA haben ihre Militärhilfe auf 650 Millionen US-Dollar aufgestockt.

Dann gibt es die Drohung mit der Sanktionenkiste. Die fortgesetzte Blockade von Nord Stream 2 und vor allem der Ausschluß Rußlands aus dem SWIFT Zahlungssystem wären zwar für die russische Exportwirtschaft und die Finanzierung des Staatshaushaltes, der sich hauptsächlich aus ihren Erlösen speist, verheerend, würden aber auf Europa (nicht aber die energieautarke USA!) zurückfallen, wäre doch nach der Unterbrechung der russischen Gas-, Öl- und Holzexporte in der EU buchstäblich der Ofen aus, mit rapide explodierenden Weltmarktpreisen im Gefolge. Länder wie Finnland, die Slowakei und Bulgarien zum Beispiel sind Pipeline-bedingt zu 100 Prozent von russischem Gas abhängig. Der Schuß ins eigene Knie ist daher keine glaubwürdige Abschreckung.

Es gibt Effektiveres als Sanktionen

Zudem hat Rußland zur Prophylaxe für Westsanktionen und externe Schocks mit 630 Milliarden US-Dollar einen beträchtlichen Schatz an Gold- und Fremdwährungsreserven angehäuft, der hauptsächlich aus Öleinahmen gespeist wurde, und im Gegensatz zum Westen mit nur 19 Produktion Staatsschulden eine solide Haushaltspolitik betrieben, kann also nicht in den Staatskonkurs getrieben werden.

Viel intelligenter dagegen wäre es, mit der Konfiszierung der internationalen Besitztümer der Kreml-Herrscher und assortierten Oligarchen zu drohen. Das Verbrechen macht keinen Spaß mehr, wenn einem die Beute geklaut wird. Plötzlich sind die Villen und Weinkeller an der Côte d’Azur, die Chalets in Chamoix, die Town-Häuser in Maifair, die Konten in der Karibik und auf Zypern und die schönen Jachten beschlagnahmt.

Schon hat Putin die seinige, die zur Reparatur in einer deutschen Werft lag, flugs vor Abschluß der Arbeiten nach Königsberg in Sicherheit gebracht. Der Abschreckungseffekt wirkt also, und was sind bei verlorenen eigenen Milliarden schon die Trümmerhaufen von Donezk und Luhansk als Ersatz?

Erfolgreiche Drohkulisse

Sie werden auch den russischen Durchschnittsbürger, so patriotisch er auch sonst gesonnen ist, nicht sonderlich erzürnen. Seit 2013 stagniert die russische Wirtschaft, auch deshalb, weil das private Unternehmertum von den Apparatschiks, den großen und kleinen Kreml-Oligarchen und der Steuerfahndung systematisch ausgeplündert wird.

Die Real-Einkommen sanken seither um zehn Prozent. Die Inflation steht bei über acht Prozent. Der Rubel verlor die Hälfte seines Wertes. Die Hauptsorgen der Russen sind die Inflation, die Verarmung und die Korruption. Putin ist zwar unbeliebt, doch weil er die organisierte Opposition effektiv ausgeschaltet hat, ist er nicht gefährdet. Er braucht also nicht einen kurzen siegreichen Krieg wie weiland 1999 gegen die Tschetschenen.

Positiv gewendet: Putin hat erfolgreich eine Drohkulisse aufgebaut, steht im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit (hier gibt es eine Analogie zu den Kims in Nordkorea!) und kann mit seinen Maximalforderungen auf Augenhöhe mit den USA verhandeln. Ein Gipfel mit Joe Biden wird zunehmend wahrscheinlich (eine Rolle für Wien gefällig?).

Konstruktive Themen wären: Eine Abrüstung von Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa auf beiden Seiten (auch der Iskander-Raketen um Königsberg), Höchstgrenzen für Militärmanöver und Dislozierungen an den jeweiligen Bündnisgrenzen, Grenzgarantien, Entsendung von Manöverbeobachtern, Entmilitarisierung der Krim und des Donbass, gemeinsame Lösungen für Syrien, Libyen und den Iran, Post-mortem Management für Afghanistan und ein Rückzug der Wagner-Söldner aus Afrika.

Last but not least: Rußland und der „Westen“ haben keinen „clash of civilizations“. Wir sind Teil eines gemeinsamen abendländischen Kulturerbes, das sich leider allzu oft und gerne überflüssigerweise zerstreitet. Diesmal zugunsten Chinas.

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Dr. Albrecht Rothacher. Gesandter-Botschaftsrat a.D., bis 2020 Leitender Verwaltungsrat für die Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland im Europäischen Auswärtigen Dienst. Autor des Buches: „Putinomics. How the Kremlin Damages the Russian Economy”. Springer 2021

Wladimir Putin: Rußlands Präsident pokert hoch Foto: picture alliance/dpa/Sputnik
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