Schon lange will die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen. „Wir können nicht zulassen, daß sich der Teufelskreis aus Panik und Untätigkeit wiederholt“, mahnte Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus noch Ende März auf einer Pressekonferenz in Genf. Die Pandemie, die die Welt unvorbereitet getroffen und innerhalb von nicht einmal fünf Jahren 20 Millionen Todesopfer gefordert hatte, darf sich nicht wiederholen – so der Tenor der WHO. Als Heilmittel bietet sie ein internationales Pandemieabkommen an, bekannt als der Pandemievertrag. Doch bis zuletzt streiten sich die Unterhändler, ob die Uno-Sonderorganisation damit mehr Macht erhalten soll.
Die WHO will, daß alle ihrer 194 Mitgliedstaaten bei der 77. Weltgesundheitsversammlung im Mai einem endgültigen Beschluß zustimmen. Wer für Präventions-, Vorbereitungs- und Reaktionsmaßnahmen Verantwortung übernehmen soll, bleibt jedoch weiterhin Streitthema. Vor allem entwickelte Länder können sich mit dem „globalen Süden“ nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen. „Ich hatte nicht das Gefühl, daß wir ernsthaft verhandelt haben“, erklärte ein westlicher Diplomat gegenüber dem Nachrichtenportal Politico.
Die Pharmakonzerne machen Druck
Einen Streitpunkt stellt der Artikel 12 dar, der einen „gerechten Vorteilsaustausch bei Keimproben“ vorsieht. Konkret sollen alle WHO-Mitglieder verpflichtet werden, Daten und Proben gefährlicher Viren und anderer Krankheitserreger mit der Zentrale in Genf zu teilen. Zur Finanzierung will die Organisation pharmazeutische Konzerne verpflichten. Beantragen sie Zugang zu den Keimen zu Forschungs- und Produktionszwecken, müssen sie Auflagen erfüllen – beispielsweise ein Fünftel der Impfstoffproduktion an die WHO zum Verteilen abgeben oder Lizenzabgaben an die Entwicklungsstaaten aushandeln.
Der Generaldirektor der Lobbyorganisation International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations, Thomas Cueni, zieht eine rote Linie. „Damit würden sie sich selbst ins Bein schießen“, sagte er der Financial Times. Die Pharmakonzerne hätten kein Problem damit, über Preise und verbindliche Verpflichtungen zu reden, aber nicht als Bedingung für den Datenaustausch. Damit vertritt Cueni vor allem die Belange der Industrie in der EU, der Schweiz, den Vereinigten Staaten und Kanada, die im Jahr 2022 fast 85 Prozent der globalen Exportumsätze ausgemacht hatte.
Entwicklungsländer fordern, Patentrecht in der Not auszuhebeln
Vielen gehen die Vorschriften wiederum nicht weit genug. Etwa der „Group for Equity“, einem Zusammenschluß von 29 Entwicklungs- und Schwellenländern innerhalb der WHO, darunter den BRICS-Staaten Brasilien, China, Iran und Südafrika. Er fordert einen verbindlichen Finanzierungsmechanismus, einen ungehinderten Zugang zu medizinischen Gütern sowie klare Regeln für den Technologietransfer. Auch am Patentschutz vorbei – dieser soll im Pandemiefall ausgehebelt werden. „Wir wollen, daß die Länder ein Recht darauf haben, Lizenzen zu verlangen“, erklärte ein Vertreter der Gruppe im März.
Dem pflichtet die „Africa Centres for Disease Control and Prevention“ bei, die Gesundheitsorganisation der Afrikanischen Union. Im Namen von 55 Staaten des Schwarzen Kontinents beklagt sie, daß sich während der Corona-Pandemie ein „Nationalismus“ breitgemacht habe: „Einige Länder horteten Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe, während andere die notwendige Ausrüstung nicht kaufen konnten.“ Mit dem Pandemievertrag könnten Bedingungen dafür geschaffen werden, eigene Kapazitäten zur Krisenbekämpfung aufzubauen.
Die Europäer und Amerikaner pochen hingegen auf Lösungen, die auf Freiwilligkeit basieren. „Erzwungener Technologie- und Wissenstransfer ist weder effektiv noch praktisch“, teilte die US-Regierung mit. Zudem sorge Patentschutz für Anreize bei der Entwicklung medizinischer Produkte. Dabei verweist Washington auf den eigenen Beitrag zu den anderen internationalen Organisationen.
US-Konservative erheben schwere Vorwürfe gegen die WHO
In den USA macht sich auch grundsätzliche Kritik an dem Abkommen breit, allen voran in konservativen Kreisen. So warnt die republikanernahe Denkfabrik Heritage Foundation davor, zusätzliche Befugnisse an die WHO abzugeben: „Deren Versagen sollte grundsätzliche Fragen aufwerfen, ob sie derart ermächtigt und belohnt werden sollte.“
Im Mittelpunkt der Vorwürfe steht China. So hätte die WHO zum Anfang der Pandemie unkritisch das Narrativ Pekings übernommen, es gäbe keine Beweise für die zwischenmenschliche Übertragung des Coronavirus, und sei daran gescheitert, Peking für die Behinderung der Aufklärung zur Rechenschaft zu ziehen: „Ohne dieses bare Minimum ist der Durchzug dieser potemkinschen Fassade eine Farce.“ Die Pflichten jeweiliger Regierungen zum Datenaustausch blieben nach wie vor vage. Zudem dürfte China als ein von der Uno als „Entwicklungsland“ eingestufter Staat von den Vorteilen des Abkommens profitieren.
Auch weitere Passagen des Entwurfs kritisiert die Heritage Foundation. So sollen die Vertragsparteien gemäß Artikel 18 erklären, in Übereinstimmung mit nationalen Gesetzen gegen „Falschinformationen und Fehlinformationen“ zusammenzuarbeiten, sowie „optimale Verfahren“ dagegen entwickeln. „Diese Sprache wird jene in den freien Staaten dazu ermutigen, unbeliebte Meinungen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Falsch- und Fehlinformationen zu unterdrücken“, warnt die Stiftung. Staaten wie Rußland und China müsse man ohnehin nicht dazu überzeugen.
Auch im deutschsprachigen Raum wächst der Widerstand
Inzwischen findet die Diskussion über den Pandemievertrag auch im deutschsprachigen Raum statt. In der Schweiz bekannten sich unter anderem aktive Politiker der SVP und der FDP zu der Petition „WHO-Pandemieabkommen – Nein danke“. Ihrer Auffassung nach hätten Kantone und Gemeinden, bei denen viele Kompetenzen in der Gesundheitspolitik liegen, kein Wort mehr mitzureden, da die Eidgenossenschaft als Ganzes von der WHO abhängig würde. „So weitreichende Verträge verlangen unbedingt eine Volksabstimmung“, sagte etwa Nationalratsabgeordneter Pierre-André Page von der SVP.
Im deutschen Bundestag bringen vor allem die AfD und die Unionsfraktion das Thema in die Debatte ein – wenngleich jeweils anderer Art. Während sich die AfD grundsätzlich gegen den Vertrag auflehnt und die Argumente der Gegner in der Schweiz und in den USA teilt, beschränken sich die Christdemokraten darauf, die Verhandlungen transparenter zu gestalten. „Es bedarf einer öffentlichen Auseinandersetzung, um Gerüchten entgegenzutreten und die Diskussion zu versachlichen“, schrieb die Fraktion in ihrem Resolutionsantrag vom Dezember vergangenen Jahres. Zudem müsse sichergestellt werden, daß die Umsetzung in Übereinstimmung mit den nationalen Gesetzen erfolge.
Das SPD-geführte Bundesgesundheitsministerium wirbt unterdessen ausdrücklich für das Abkommen. „Es ist eine einmalige Gelegenheit, regionale, nationale und globale Kapazitäten zu stärken, damit Infektionskrankheiten seltener auftreten“, schreibt die Behörde auf ihrer Seite. Sowohl die Annahme als auch die Umsetzung der einzelnen Punkte würden nach wie vor den einzelnen Mitgliedsstaaten obliegen. Zugleich solle dabei das „politische Engagement“ der internationalen Gemeinschaft widergespiegelt werden. Doch ob der Vertrag überhaupt in Kraft tritt, bleibt unklar. Nun soll vom 29. April bis 10. Mai in Genf erneut verhandelt werden, um einen Durchbruch zu erzielen. Erst dann soll die Weltgesundheitsversammlung endgültig entscheiden, ob der Vertrag für die Welt einen ersten Schritt zur Genesung der globalen Gesundheitspolitik darstellt.