STUTTGART. Der Stuttgarter Physiker und Energieexperte, André Thess, hat dem Professorenkollegium der Ethikkommission „Atomausstieg“ vorgeworfen, für ihren Abschlußbericht 2011 die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis ignoriert zu haben. „Zusammenfassend komme ich zu dem Schluß, daß die drei Professorinnen und fünf Professoren der Ethikkommission dem Leitbild unabhängiger Wissenschaft nicht gerecht geworden sind“, bemängelte er in einem offenen Brief vom Sonntag.
Wissenschaftler wie der damalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Mathias Kleiner, den Thess in seinem Schreiben namentlich hervorhob, oder der Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Jörg Hacker, hätten sich allem Anschein nach vereinnahmen lassen und das politisch erwartete Ergebnis geliefert.
„Haben die acht Professoren – wie in Ihrer Presseerklärung gesagt – unabhängig votiert und sind damit dem Vertrauen gerecht geworden, welches die Gesellschaft beamteten Hochschullehrern auf Lebenszeit schenkt?“, fragte Thess, der an der Universität Stuttgart den Lehrstuhl für Energiespeicherung inne hat, in dem Brief. Obwohl der Bericht der Ethikkommission bereits zehn Jahre alt sei, halte Thess die Frage dennoch „gerade jetzt“ für zeitgemäß. „Viele Deutsche äußern angesichts der gegenwärtigen Pandemie- und Klimapolitik Zweifel an der Unabhängigkeit der Wissenschaft“, untermauerte er seine Meinung.
Abschlußbericht legitimierte die von Merkel gewünschte Energiewende
Am 30. Mai 2011 hatte das 17köpfige Gremium der Ethikkommission seinen Abschlußbericht „Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft“ vorgestellt; die acht Professoren bildeten dabei die Meinungen aus der Wissenschaft ab. Die Bundesregierung hatte die Kommission im März 2011 eingesetzt, um vor dem Hintergrund der Ereignisse in Japan die Risiken der Kernenergie für Deutschland neu zu bewerten.
Die Experten kamen zu dem Schluß, daß es möglich sei, sie innerhalb von zehn Jahren durch risikoärmere Technologien „ökologisch, wirtschaftlich und sozial verträglich“ zu ersetzen. Mit dem Bericht wurde die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forcierte Energiewende legitimiert.
Thess, der auch Direktor des Instituts für Technische Thermodynamik am Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt ist, warf dem aktuell als Präsident der Leibniz-Gemeinschaft amtierenden Kleiner sowie den weiteren Professoren verschiedener Fachrichtungen vor, den Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis in mehreren Punkten nicht gefolgt zu sein.
Keine hinreichende Fachkompetenz für Kernenergie
So bemängelte er, das Kollegium habe nicht über hinreichende Fachkompetenz verfügt, um die Risiken eines Verbleibs in der Kernenergie gegenüber denen eines Ausstiegs umfassend und sachgerecht abzuwägen, da ihm kein Kraftwerkstechniker, kein Elektrotechniker und kein renommierter Ökonom darin angehört habe. Stattdessen zählte beispielsweise die Philosophieprofessorin der Universität Regensburg, Weyma Lübbe, oder die Leiterin des Forschungszentrums für Umweltpolitik der FU Berlin, Miranda Schreurs, zu dem Gremium.
Thess kritisierte, das Kollegium habe das zu diskutierende Thema mit „politisch vorgegebenem Ergebnis anscheinend widerspruchslos entgegengenommen“. „Diese Aufgabenstellung macht klar, daß Ihre Kommission nicht das ‘Ob’, sondern lediglich das ‘Wie’ eines Kernenergieausstiegs zu beantworten hatte.“ Die eigentliche Risikoabwägung sei damit hinfällig gewesen. Dazu paßt die Aussage Kleiners vom Mai 2011, in der er dem Deuschlandfunk gegenüber einräumte, bis zum Reaktorunfall in Japan kein Gegner der Kernenergie gewesen zu sein. „Aber ich muß sagen, Fukushima hat mich dann eines anderen belehrt, für mich war Fukushima tatsächlich ein einschneidendes Erlebnis.“
Thess: Stand der Wissenschaft nicht berücksichtigt
Das Kollegium hätte die Aufgabe ergebnisoffen führen und die Risiken eines Verbleibs und eines Ausstiegs aus der Kernenergie aus ganzheitlicher Perspektive fachgerecht abwägen und bewerten müssen, rügte Thess weiter. „In Ihrem Dokument fehlt hingegen die Abwägung zwischen dem Risiko eines schnelleren Klimawandels ohne Kernenergie und dem Risiko eines langsameren Klimawandels mit Kernenergie. Aber gerade diese Abwägung wäre für eine solche Analyse konstitutiv gewesen!“ Gute wissenschaftliche Praxis umfasse eine neutrale Darstellung gegensätzlicher Positionen in Wissenschaft und Gesellschaft.
Desweiteren bemängelte Thess in seinem offenen Brief, daß der internationale Stand der Wissenschaft unberücksichtigt geblieben sei. Dadurch sei einem nationalen Alleingang Deutschlands Vorschub geleistet worden. „Sie sind der Öffentlichkeit eine Begründung schuldig geblieben, in welcher Hinsicht sich die ethischen Maßstäbe einer deutschen Professorengruppe etwa von denen einer französischen unterscheiden.“
Daß es in dem Abschlußbericht zu einer Vermengung von Fakten und Meinungen gekommen sei, zeigte Thess an folgendem Satz der Ethikkommission exemplarisch auf. „Für die Kernenergie mit ihrem besonders hohen Katastrophenpotenzial ist es ethisch nicht hinnehmbar, die außerhalb dieser (gesetzten) Grenzen befindlichen und durch Fukushima belegten Ereignisabläufe der Havarie und Havarie-Folgen als ‘Restrisiko’ abzutun.“ Mit dieser Aussage würde man nach Meinung des Physikers dem „Rest der Welt“ unterstellen, unethisch zu denken und zu handeln.
Abschließend forderte Thess die Professoren auf, sich auf „die intellektuelle Freiheit“ zu besinnen, die der Staat ihnen durch den Beamtenstatus ermögliche, „um das in der heutigen Zeit beschädigte Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft wiederzuerlangen“.
Kleiner hingegen wies den Vorwurf laut Welt zurück. Es sei in der Ethikkommission um eine gesellschaftspolitische Bewertung des Atomausstiegs gegangen, nicht um ein fachliches Gutachten, sagte er dem Blatt. Die Professoren hätten sich also lediglich als Mitglieder der Zivilgesellschaft geäußert, nicht als Fachwissenschaftler. (hl)