Die These, daß historische Ereignisse Lehrbeispiele für aktuelles Geschehen sein können, steht auf wackeligen Füßen. Dennoch liefert die Geschichte Momente, die derartige Parallelen zu gegenwärtigen Ereignissen aufweisen, daß man nicht umhinkann, daraus Lehren zu ziehen. Diplomatie und Verlauf des Krimkrieges Mitte des 19. Jahrhunderts liefern in dieser Hinsicht ein aufschlußreiches Muster.
Nach dem Londoner Meeresengenvertrag von 1841, der vor allem englische Forderungen befriedigte und etwas Stabilität in das europäische Kräftespiel brachte, stand die Politik ganz im Zeichen der Orientalischen Frage. Diese ergab sich aus der zunehmenden Schwäche des Osmanischen Reiches. Dessen Staatsgebiet ragte von Süden her in das europäische Staatensystem hinein, und der Schwächezustand der Pforte warf immer drängender die Frage auf, welche Form die daraus erwachsende Neuordnung annehmen sollte.
Frankreich und England sahen ihre imperialen Interessen berührt und sannen darauf, diese möglichst durchzusetzen. Zugleich war die Türkei aber auch der ideale Bündnispartner, um territoriale Ansprüche Rußlands abzuwehren. Für England stand außerdem im Hintergrund das „Great Game“, die Rivalität mit Rußland im fernöstlichen Raum. In Frankreich versuchte der soeben zur Macht aufgestiegene Napoleon III., seine Herrschaft durch außenpolitische Erfolge zu festigen.
Der Zar gab den Marschbefehl
Rußland wiederum ging es um die Erweiterung seiner Machtposition am Schwarzen Meer und seinen Anteil am osmanischen Erbe. Es besetzte die Donaufürstentümer Moldau und Walachei und forderte die Unabhängigkeit der Balkanslawen, den Balkan als gemeinsames Protektorat mit Österreich, Konstantinopel als Freie Stadt, Schleifung der Festungen an den Dardanellen und dem Bosperus sowie die Schutzherrschaft über die griechisch-orthodoxen Christen im Heiligen Land.
On this day in 1853, 80,000 Russian troops cross into the Ottoman-controlled territories of Moldavia, Wallachia and the Danubian Principalities. The invasion triggers what will become the Crimean War. pic.twitter.com/YYNHI46989
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England führte seine Verhandlungen über seinen Botschafter für das Osmanische Reich, Lord Stratford Canning, was de facto einer Kriegserklärung gleichkam, denn dieser war als kompromißloser Gegner Rußlands bekannt und zugleich hervorgetreten als ein entschiedener Befürworter der türkischen Politik. Nach fruchtlosen Verhandlungen verließ die russische Delegation unter Alexander Menschikow Konstantinopel am 21. Mai 1853. Kurz danach verlegten England und Frankreich ihre Flotten in die Bucht von Besika vor der Dardanellenstraße. Am 3. Juli 1853 gab der Zar seinen Truppen den Befehl, den Pruth, von 1812 bis 1878 Grenzfluß zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich, zu überschreiten.
England und Frankreich wollten Preußen als Bündnispartner
Wenn der gegenwärtige Ukraine-Krieg ein Stellvertreterkrieg ist, so zeichnet sich im Fall des Krimkrieges bereits früh ab, daß der anfänglich einem Kabinettskrieg des 18. Jahrhunderts gleichende militärische Konflikt schnell den Charakter eines Stellvertreterkrieges annahm. Auch dabei ging es wesentlich um die Eindämmung Rußlands. Mit einigem Recht kann man ihn daher als Vorläufer des jetzigen Ukraine-Krieges bezeichnen.
Preußen sah sich mit den weit nach Westen und Osten ausladenden Flügeln seines Staatsgebietes plötzlich zwischen den Westalliierten und Rußland eingeklemmt. Vergleichbare Situationen waren zwar nicht unbekannt, doch hatte Preußen sich grundsätzlich für eine Linie des Ausgleichs entschieden. So hatten die Bemühungen von Friedrich Wilhelm III. im russisch-türkischen Krieg 1829 zum Frieden von Adrianopel geführt. Auch Friedrich Wilhelm IV. bekannte sich im Juni 1853 in einem Schreiben an Königin Viktoria zu einer zurückhaltenden Linie: Er wolle „mit England gehen, ohne sich zum Kriege mit Rußland drängen zu lassen“.
The Crimean War was fought between 1853-6 and is probably best known today for the Charge of the Light Brigade or Florence Nightingale. It was one of the first wars to be documented in photographs, and here are four I have restored for you. pic.twitter.com/VgShHI8ZaS
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Preußens Entscheidung für eine autonome Souveränität war innen- und außenpolitisch heikel. Das Kabinett war in dieser Frage gespalten, ein erheblicher Teil des Beamtenapparates und des höheren Militärs neigte zu England, während der andere Teil mit Rußland gehen wollte. Die Liberalen standen auf britischer Seite.
Preußen geriet unter Druck
Es kam zu skurrilen Vorkommnissen. Der deutsche Botschafter in London, Christian von Bunsen, identifizierte sich derart mit der englischen Seite, daß er sich weigerte, eine russische Note, die über Berlin nach London gehen sollte, dort auszuhändigen. Er war mit einer Engländerin verheiratet, die sich mit solcher Verve für die Sache Englands einsetzte, daß man sie in diplomatischen Kreise nur „Captain Jack“ nannte und sich fragte, ob sie die Hosen anhatte.
Für England und Frankreich war es geradezu ein Gebot der erfolgreichen Kriegsführung, Preußen als Bundesgenossen zu gewinnen. Anfänglich umschmeichelte man Preußen noch, aber mit Kriegsausbruch setzte ein wachsender Druck auf mehreren Ebenen ein. Dieser reichte von diplomatischen Aktionen und Handelsmaßnahmen über den Versuch, preußische Diplomaten zu kaufen, bis hin zu direkten Drohungen und Pressekampagnen.
Insbesondere in England entfaltete sich eine Massenpresse, die den Krieg ideologisierte und die preußische Neutralität angriff. Rußland erschien jetzt als halbasiatisches Land, in dem die Zivilisation noch nicht angekommen war. Seit Katharina II. hätte es nur Eroberungsgelüste gehegt. Preußen müsse dem Bündnis im Interesse der Zivilisation beitreten und die Freiheit Europas verteidigen. Premierminister Palmerston überlegte, ob nunmehr der Zeitpunkt gekommen sei, Rußland „in Einzelteile zu zerlegen“.
Englands Pläne stießen auf Ablehnung
Bismarck erinnerte sich an diesen moralischen Druck Englands rückblickend in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ (1898) mit distanzierender Ironie, indem er auf jene „Gemütseindrücke“ verweist, „welche die Redensarten von Humanität und Zivilisation, die aus England bei uns importiert werden, auf deutsche Gemüter immer noch haben; war uns doch während des Krimkrieges von England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt worden, daß wir ‘zur Rettung der Zivilisation‘ die Waffen für die Türkei ergreifen müßten“.
Da Rußland für Preußen ein unmittelbarer Nachbar war, registrierte man die Beziehung zu diesem gewaltigen Land viel sensibler als die Westmächte. Ein Zusammengehen mit den Westalliierten hätte die europäische Mitte unverzüglich in ein katastrophales Schlachtfeld verwandelt. Insofern ist der Ausbruch der Kampfhandlungen auf der Krim auch eine Folge der preußischen Weigerung, den alliierten Truppen den Durchmarsch durch sein Staatsgebiet zu genehmigen.
On this day in 1854, France and Britain come to the aid of the Ottoman Empire and declare war on Russia. The Crimean War offers a glimpse into the future of armed conflict: telegraph communications, trench warfare, combat photography & even battlefield nursing are all pioneered. pic.twitter.com/ktVF9N2vJg
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Die strategischen Überlegungen Englands sahen mehrere Ansatzpunkte vor. Bereits am 4. März 1854 hatte Lord Clarendons Vorschlag Friedrich IV. erreicht, Preußen die völkerrechtliche Herrschaft über das Baltikum und die Ostsee zu übertragen, wenn es sich den Alliierten im Kampf gegen Rußland anschlösse. Englische Truppen sollten an der pommerschen und ostpreußischen Küste anlanden und zusammen mit preußischen Truppen durch das Baltikum auf St. Petersburg zumarschieren. Ein derartiges Vorhaben stieß in Berlin jedoch auf entschiedene Ablehnung.
Preußens Handel mit Rußland verärgerte England
Als Botschafter Bunsen in London sich eigenmächtig und entgegen allen Instruktionen positiv zu dem englischen Vorhaben stellte, löste dies in Berlin Bestürzung aus. In einem Brief an Königin Viktoria vom 24. Mai 1854 reagierte Friedrich Wilhelm IV. mit den Worten: „… ‘Preußen eine bessere Grenze im Osten und die Herrschaft auf dem Baltischen Meere zu versprechen, als Preis meiner Kriegserklärung an Rußland’. Das warf mich völlig zu Boden. Ich bin dem Schluchzen vor Kummer und Beschämung nahe gewesen.“ Dennoch besetzte England am 8. August 1854 die Ålandinseln, die Inselgruppe zwischen Finnland und Schweden, um sie als Sprungbrett für einen Vormarsch auf St. Petersburg zu nutzen.
Die Royal Navy drohte außerdem, die Ostseehäfen zu blockieren, denn der florierende Handel Preußens mit Rußland war den Engländern naturgemäß ein ständiges Ärgernis. In beträchtlichem Umfang verkaufte Preußen nämlich auch Munition und vor allem Gewehre mit gezogenem Lauf, die die Russen noch nicht herstellen konnten. Zwar stellte Preußen die Lieferung von Kriegsmaterial auf englischen Druck ein, aber machte ansonsten keine Abstriche in seinem Handel mit Rußland, so im Falle von landwirtschaftlichem Gerät und technischer Ausrüstung für die dort entstehende Textilindustrie.
Preußens konsequente Neutralitätspolitik beruhte auf einem integrativen Staatsverständnis, das auch die Bedeutung abweichender Meinungen zu erkennen und für den Staat zu nutzen verstand. Abweichende Auffassungen wurden nicht ausgegrenzt, sondern auf ihren Wert hin befragt und schließlich im Sinne des Staatswohles gebündelt. Die mit dem Staatsverständnis einhergehende Eigenständigkeit führte zu seinem Selbstbewußtsein, das ein rationales Verhältnis zu den Nachbarstaaten ermöglichte.
Unbestreitbar verfolgte auch Preußen eigene Interessen, aber es bedachte zugleich auch die Wirkung seiner Schritte auf das europäische Machtgefüge. Vor allem spricht aus der Rolle Preußens während des Krimkrieges eine bemerkenswerte Politikfähigkeit, die uns heute offensichtlich verlorengegangen ist. Preußen ließ sich nicht in ein Bündnissystem pressen, das mit Sicherheit die Mitte Europas mit Krieg überzogen hätte.