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Aufgearbeitet: Eine Reise in Rudolf Steiners „höhere Welt“

Aufgearbeitet: Eine Reise in Rudolf Steiners „höhere Welt“

Aufgearbeitet: Eine Reise in Rudolf Steiners „höhere Welt“

Rudolf Steiner um 1910: Nach dem Ersten Weltkrieg befaßte er sich auch mit der sozialen Frage. Foto: IMAGO / Heritage Images
Aufgearbeitet
 

Eine Reise in Rudolf Steiners „höhere Welt“

Esoteriker, Pädagoge, Autor: Vor einem Jahrhundert starb der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner. Zwei Bücher versuchen, möglichst viele Aspekte seines Lebens und seiner Lehre unter die Lupe zu nehmen.
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Am 30. März jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophie. Heute im öffentlichen Bewußtsein vor allem als Initiator der Waldorfschul-Bewegung sowie der biologisch-dynamischen Landwirtschaft bekannt. Was dagegen als Weltanschauung dahintersteht wird selbst von hier Tätigen oft ausgeblendet. Wer sich mit dieser auseinandersetzt, wird schnell verstehen, warum. Leichte Kost ist das alles nicht, was der am 27. Februar 1861 in der k.u.k. Monarchie geborene Steiner in Dutzenden Büchern und unzähligen Vortragsmitschriften zu den unterschiedlichsten Lebensbereichen hinterlassen hat.

Es ist Wolfgang Müllers Verdienst, sich dem „Rätsel Rudolf Steiner“ mit wissenschaftlicher Distanz und Neugier zu nähern. Sein Zugangsweg geschieht notwendig individuell. Durch Zufall fällt in der Stadtbibliothek dem ehemaligen Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk ein Buch in die Hände. Steiner würde hier von „karmischen Zusammenhängen“ sprechen, die im Leben eines jeden Menschen tätig seien. So bietet Müller dem unerschrockenen Skeptiker einen komprimierten Zugang. Aber auch Kenner können sich von unvoreingenommen Sichtweisen anregen lassen, die der anthroposophischen Bewegung neutral gegenüberstehen, was bei ihrer polarisierenden Wirkung durchaus selten ist.

Steiners Ausgangspunkt ist, daß die uns umgebende materielle Welt nur äußere Hülle einer dahinterstehenden, übergeordneten geistigen Wirklichkeit ist, die in bestimmten Gemütszuständen direkt und unmittelbar erlebt werden kann. Damit reiht sich Steiner in die ältesten geistesgeschichtlichen Traditionslinien. Doch anders als eine reine Offenbarungslehre interessiert der Inhalt des hier Geschauten wenig. Ursprünglich wollte Steiner sogar die Mitschriften seiner Vorträge verbieten, die heute den weitaus größten Teil des veröffentlichten Werkes ausmachen. Wie einem Rechenlehrer nicht das Ergebnis, sondern der Weg des Schülers zu diesem interessiert, will Steiner seine Methode vermitteln.

Denn das ist der Anspruch Steiners. Nicht eine Sekte will er anführen, die Glaubensinhalte auf Autorität hin annimmt. Sondern „Beobachtungs-Resultate nach naturwissenschaftlicher Methode“ vermitteln – so der Untertitel der 1893 erschienenen „Philosophie der Freiheit“. Damit hat er es sich gleich mit zwei Strömungen verscherzt. Zum einen mit der damaligen Wissenschaft, die den anerkannten Experten für Goethes naturwissenschaftliche Schriften fortan als einen Abtrünnigen betrachtete, der die Trennung von Experiment und Experimentator aufhob. Auf diese entscheidende Zeit legt Müller den Schwerpunkt seiner knapp gehaltenen Biographie.

Zu abschreckend, zu absonderlich und bizarr erschien Wissenschaftskollegen das, was ihnen Steiner von jener ominösen, höheren Welt berichtete. Doch gerade das war es, das ein anderes – zumeist weibliches – Publikum massenhaft anzog. Die aufkommende Esoterik jener Zeit interessierte sich zwar durchaus inhaltlich für diese Geistesschau, jedoch nur als gefühlsmäßige Glaubenslehre der Erbauung. Der anstrengende, wissenschaftlich-methodische Schulungsweg hin zu dieser Schau erschien ihr wenig anziehend. Doch das war Steiners großer Anspruch. „Überall geht es hier um eine wache, bewußte Lebensführung“, so Müller.

Damit unterschied sich die Anthroposophie radikal von mystischen Erweckungsbewegungen. Es gibt kaum eine trockenere Diät jeglicher Schwärmerei als Steiners esoterische Schriften mit verheißungsvollen Titeln wie „Wie erlange ich Erkenntnisse höherer Welten“ – die Enttäuschung war programmiert. Dennoch gelang es Steiner, zahlreiche Kulturimpulse zu setzen, die auch nach seinem Tod bis in unsere Gegenwart fortlebten und die Müller in einem knappen geschichtlichen Abriß nachzeichnet. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus. Quellensicher führt Müller die damaligen Zwänge zwischen Anpassung, vorsichtigem Taktieren und Widerstand vor Augen.

Bezeichnenderweise stammt eine der besten Charakterisierungen der Waldorfpädagogik aus ihrem damaligen Verbot: „Die auf der Pädagogik des Gründers Steiner aufgebauten und in den heute noch bestehenden anthroposophischen Schulen angewandten Unterrichtsmethoden verfolgen eine individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat“, heißt es in der Verfügung von Reinhard Heydrich vom 15. November 1935. Eine gewisse Renaissance erlebte die Anthroposophie mit der New-Age-Bewegung, wo zahlreiche Protagonisten der 68er-Bewegung sich mit den Sozialideen Steiners auseinandersetzten.

Leider wird dieser überaus wichtige Teil in Steiners Wirken bei Müller weitgehend ausgelassen. Das ist vor allem darum bedauerlich, weil die einzelnen überkommenen Einrichtungen nur aus Steiners Sozialidee heraus verstanden werden können. In der turbulenten Phase nach dem Ersten Weltkrieg wurde weniger Steiner als seine Anhängerschaft politisch aktiv. Die Bewegung für eine „Dreigliederung des Sozialen Organismus“ versuchte dem durch den Krieg erschütterten Sozialgefüge in Mitteleuropa neue Impulse mitzugeben, die Steiner in den „Kernpunkten der sozialen Frage“ zusammenfaßte.

Ein älteres Werk befaßt sich mit Steiners Wirtschaftsordnung

Diese öffentlich durchaus wirkmächtige Bewegung strebte eine Sozialordnung aus dem emanzipierten Individuum heraus an. Dazu gehörte, daß die bisher vom Staat politisch-administrativ verwalteten Bereiche der Wirtschaft einerseits, des Kulturlebens andererseits, aus diesem herausgegliedert und den eigenen Gesetzmäßigkeiten gemäß auf eine passende Grundlage gestellt werden sollten. Nach dem Scheitern dieser Bewegung vertiefte Steiner im „Nationalökonomischen Kurs“ die Gedanken einer Weltwirtschaft, in dem das freie Spiel der Märkte, die letztlich nur überkommene, politische Machtverhältnisse fortführen, durch freie Assoziationen von Menschen umgestaltet werden.

Wer bei diesem wichtigen Aspekt in Steiners Werk auf Sekundärliteratur zugreifen will, wird bei Müller nicht fündig. Zu empfehlen ist hier die Einführung von Bernhard Behrens aus den 1930er Jahren, die verdienstvollerweise kürzlich von Ralf Neff und Manfred Kannenberg neu herausgegeben wurde. Behrens, der später in die USA emigrierte, dort zeitweilig interniert wurde und nach dem Krieg die anthroposophische Bewegung in Hamburg neu aufbaute, versucht hier einen Brückenschluß zur Wirtschaftswissenschaft seiner Zeit zu schlagen. Das macht es Lesern einfacher, einen Zugang zu finden, die zwar in der gängigen ökonomischen Begriffswelt zu Hause sind, aber vor Steiners Originaltexten kapitulieren.

Nach hundert Jahren umfaßt die von der Rudolf-Steiner-Nachlaßverwaltung in der Schweiz herausgegebene Gesamtausgabe mittlerweile fast vierhundert Bücher. Ein unerschöpflicher Steinbruch für jeden Befürworter wie Gegner der Anthroposophie, die sich die passenden Sätze herausklauben können. Unüberschaubar die Fülle an weiterer Sekundärliteratur, zu der Müller einen wichtigen allgemeinverständlichen Beitrag geleistet hat. Und wer sich nicht abschrecken lassen will, der kann sich auch die Texte zur Gänze zu Gemüte führen, die Steiner selbst für eine Veröffentlichung vorsah. Wenn er verzweifelt, kann er sich trösten. Es sind in diesen hundert Jahren noch ganz andere vor ihm gescheitert.

Rudolf Steiner um 1910: Nach dem Ersten Weltkrieg befaßte er sich auch mit der sozialen Frage. Foto: IMAGO / Heritage Images
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