Für die Aufarbeitung eines Unrechtsstaats sind Akten der Überwachungsorgane von unschätzbarer Bedeutung. Das wissen auch die Täter. Daher arbeiteten Mitglieder des Ministeriums der Staatssicherheit der DDR seit 1989 daran, das entsprechende Schriftgut zu vernichten. Angesichts der Ereignisse der friedlichen Revolution ahnte die Stasi-Führung, daß das Ende des Arbeiter- und Bauernstaates nahte.
Bereits seit dem 4. Dezember 1989 war es im Land zu Besetzungen von Stasi-Bezirksverwaltungen durch Bürgerrechtler gekommen. Auf diese Weise verhinderten sie in den Dienststellen, daß Akten verschwanden.
Unter dem Eindruck dieser Entwicklung hatte der neue Stasi-Leiter Wolfgang Schwanitz angekündigt, den Geheimdienst zur Überwachung der eigenen Bevölkerung zu reformieren. Zudem sollten schrittweise Tausende hauptberufliche Stasi-Angehörige entlassen werden, bis die Organisation ganz aufgelößt sei.
Möbel flogen durch Fenster
Ungeachtet dieser Beschwichtigungsversuche gegenüber der wachsenden Opposition rief die Bürgerbewegung Neues Forum für den 15. Januar zu einer Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße auf. Laut Berichterstattung des DDR-Fernsehens folgten 100.000 Menschen dem Appell. Die anwesende Sicherheitskräfte verhielten sich zurückhaltend.
Die Polizisten griffen auch dann nicht ein, als gegen 17.00 Uhr der erste Demonstrant über das Tor kletterte und auf das Gelände der Stasi-Zentrale vordrang. Damit war der Bann gebrochen – immer mehr Personen strömten auf das Gelände. Nun entlud sich der angestaute Ärger über den Unterdrückungsapparat des SED-Regimes. Scheiben barsten, Akten und Möbel flogen aus den Fenstern, nachdem die Menge in das Gebäude eingedrungen war. Rund drei Stunden später war der Spuk vorbei und die Eindringlinge verließen den Ort des Geschehens. Bemerkenswerterweise war keiner der anwesenden Polizisten oder Stasi-Angehörigen verletzt worden.
Die DDR-Führung schätzte die Lage zwischenzeitlich als so brenzlig ein, daß mehrmals in diesen Stunden das Fernsehprogramm unterbrochen wurde. Nachrichtensprecher verlasen Aufrufe zur Besonnenheit.
Der Zeitzeuge Wolfgang Templin erinnerte sich gegenüber dem ZDF an den Tag. In der chaotischen Lage gelangte er in das Büro von Stasi-Chef Erich Mielke. Er nutzte die Gelegenheit und nahm an dessen Schreitisch Platz. „Das ließ ich mir dann doch nicht entgehen, mich in den Mielkesessel zu setzen. Das war ein Moment nicht nur von Erleichterung, sondern auch von Triumph.“
Akten sollten im Bundesarchiv verschwinden
Im Rückblick überrascht es, daß die Stasi-Leute auch in den folgenden Tagen ihre Zentrale unbehelligt betreten konnten. Dabei hatten sie freie Hand, um Schriftgut zu beseitigen oder wegzuschaffen. Jahrelang diskutierten Historiker daher die Frage, ob der Sturm auf die Stasi-Zentrale nicht gar eine Inszenierung des Spitzeldienstes war, um im Durcheinander Akten zu beseitigen und dem wütenden Volk eine Möglichkeit zu geben, ihre Wut abzureagieren. Mittlerweile werden solche Überlegungen jedoch verworfen.
Auch nach den Plänen führender westdeutscher Politiker, darunter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), sollten die Akten verschwinden. Statt der Vernichtung schwebte ihnen jedoch vor, die Schriftstücke im Bundesarchiv in Koblenz unter Verschluß zu halten. Daß es doch anders kam, ist der zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale und einem Hungerstreik der Bürgerrechtler zu verdanken. Die Akten verschwanden nicht auf unbestimmte Zeit in den Archivschränken. Sie wurden freigegeben und bildeten den Grundstein zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts.
Im vergangenen Oktober gelang es jedoch der SPD-Bundestagsfraktion nach jahrzehntelangem Ringen mit der Union die Akten ins Bundesarchiv zu bringen. Nächstes Jahr landen sie schließlich in Koblenz. Bereits 2004 hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung erstmals versucht, die Stasiunterlagenbehörde des Bundes aufzulösen. 30 Jahre nach dem Hungerstreik verschwinden die Akten nun im Archiv.