Am sonnigen Morgen des 23. Mai 1945, zwei Tage nach Pfingsten, „starb in Flensburg das Deutsche Reich“. So meldete das US-Magazin Time seinen Lesern. Um „historische Bilder“ vom Ende der Reichsregierung zu liefern, wurden mehrere Dutzend Fotoreporter eigens aus Paris eingeflogen. Großadmiral Dönitz, Generaloberst Jodl und Rüstungsminister Speer mußten sich wie Verbrecher vor einem schußbereiten Maschinengewehr an die Wand stellen, die „fotografische Exekution“ wurde – trotz heftiger Proteste der Delinquenten – mehrfach wiederholt.
Die Welt verlangte nach Symbolen des Sieges. Die rote Fahne über dem Reichstag genügte nicht. Und da Hitler am Ende nicht einmal als tote Trophäe zur Verfügung stand, mußte ein anderer seinen Kopf hinhalten: Karl Dönitz.
Wenige Stunden zuvor war der Großadmiral auf der „Patria“ eingetroffen, einem Luxus-Dampfer der Hapag, auf dem US-General Lowell W. Rooks residierte. Seit dem 8. Mai hatte man hier gemeinsam getagt, an diesem 23. Mai fehlte das sonst übliche Zeremoniell. Rooks erklärte, daß „die amtierende Regierung (…) mit dem heutigen Tag (…) als Kriegsgefangene in Haft genommen werde. Damit ist die amtierende deutsche Regierung aufgelöst.“
Zur gleichen Zeit stürmten britische Soldaten in Bataillonsstärke den „Sonderbereich Mürwik“, eine Enklave, die 500 Mitarbeitern als „Regierungssitz“ diente. Die „Operation Blackout“ war nur Vorspiel zu einem zweiten Fototermin. Alle Deutschen mußten sich vollständig entkleiden („Hosen runter!“), sich einer entwürdigenden Untersuchung unterziehen und dann vor dem Gebäude mit erhobenen Händen antreten.
Evakuierung aus dem Osten hatte absolute Priorität
Dönitz war sich von Anfang an sicher, daß seine Mission nur von kurzer Dauer sein würde. Als er am 30. April nach Hitlers Tod zum „Reichspräsidenten“ ernannt wird, nimmt er die Aufgabe ohne Zögern an. Sein preußisches Pflichtethos gebietet ihm, den schweren Gang zu gehen. „Schluß machen, Heldenkampf ist genug gekämpft, Volkssubstanz erhalten, keine unnötigen Blutopfer mehr“, lautet seine Devise.
Statt Volk und Heimat verloren zu geben, denkt Dönitz über das Kriegsende hinaus, setzt die Nerobefehle außer Kraft und wird für Millionen Deutsche aus dem Osten zum Retter. Diese Rettung der Soldaten und Flüchtlinge im Osten gebietet ihm, die Kapitulation im Osten so weit wie möglich hinauszuzögern. Dazu bildet Dönitz schon am 1. Mai eine geschäftsführende Reichsregierung mit Lutz Schwerin von Krosigk als Reichskanzler. Ribbentrop, Rosenberg und Himmler werden entlassen, letzterer mit entsicherter Waffe unter Dönitz’ Papieren.
Dönitz’ Ziel ist die geordnete Kapitulation, möglichst zeitversetzt in West und Ost. Die von den Siegern geplante Zonengrenze ist seit 1944 bekannt, ihr Verlauf diktiert das Geschehen. Für den Rückzug der Wehrmacht gilt es, acht bis zehn Tage Zeit zu gewinnen.
Als Lübeck fällt, zieht sich Dönitz am 2. Mai hinter den Nord-Ostsee-Kanal zurück und nimmt Quartier in der Kaiserlichen Marineschule in Mürwik. Hier hat er 1910 mit 19 Jahren als Seekadett begonnen. Jetzt wohnt er auf der „Patria“, die seit 1941 in der Förde vor Anker liegt.
Schon am 2. Mai kapituliert die Italienarmee unter Kesselring. Am 3. Mai verhandelt Friedeburg mit Montgomery und erreicht eine Teilkapitulation für den Nordwesten für den 5. Mai, 8 Uhr. Am 6. Mai trifft Jodl im alliierten Hauptquartier in Reims ein. Eisenhower verhandelt nicht. Er droht mit Bombardierung und Auslieferung aller Soldaten.
Illusionen über Zusammenarbeit
Am 7. Mai um 2.41 Uhr unterzeichnet Jodl die Gesamtkapitulation: Vom 8. Mai, 23.01 Uhr deutscher Sommerzeit an sollen die Waffen schweigen. Auf Wunsch der Sowjets wird der Kapitulationsakt in Berlin-Karlshorst wiederholt. Am 9. Mai um 1.14 Uhr. Der Reichssender Flensburg meldet „das Ende dieses Krieges“.
Vier Tage später wird Flensburg besetzt, die Einwohnerzahl ist von 68.000 auf 110.000 gewachsen, 250 Flüchtlingsschiffe liegen im Hafen. Die „Patria“ wird Hauptquartier der Alliierten, Dönitz zieht in die „Sonderzone Mürwik“. Fast täglich finden jetzt Gespräche mit den Siegern statt. Die Atmosphäre ist sachlich und respektvoll, bei der Ankunft werden Dönitz die militärischen Ehren erwiesen. Es geht um praktische Fragen. Versorgung der Bevölkerung, Unterbringung der Flüchtlinge, Post- und Straßenverkehr, Saatgut und Düngemittel.
Die deutschen Minister legen Pläne vor, sie hegen Illusionen über Zusammenarbeit. Als Dönitz von den Zuständen in den KZs erfährt, richtet er die dringende Bitte an Eisenhower, das Reichsgericht die Schuldigen aburteilen zu lassen. In einem Tagesbefehl an die Wehrmacht vom 18. Mai verurteilet er die „hinter dem Rücken von Volk und Wehrmacht begangenen Verbrechen“ aufs Schärfste. Die Sowjetunion fordert den Umzug der „Regierung“ nach Berlin, als Dönitz ablehnt, ihre Auflösung. Dönitz bleibt im Amt, bis man sicher sei, daß die Russen an der Zonengrenze stehen bleiben – so heißt es im Westen.
Dönitz, ein deutscher Pétain, der einen Rest von Selbständigkeit verwalten darf – daran glaubt kaum jemand. Ihm wird vorgeworfen, daß er zu lange auf den Endsieg gesetzt, auf neue U-Boote gehofft habe. Leicht vergessen wird dabei, daß die Westmächte von vornherein, spätestens seit Casablanca Anfang 1943, jeden Frieden ohne bedingungslose Kapitulation ablehnten. Man werde keine Friedensbedingungen nennen, so Churchill, weil diese so hart seien, daß die Deutschen dann noch verzweifelter kämpfen würden.
Zehn Jahre Haft beim Nürnberger Prozeß 1946
Nach seiner Verhaftung wird Dönitz mit Göring und anderen NS-Größen im Lager „Ashcan“ (Ascheimer) im luxemburgischen Mondorf interniert. Mit ihnen wird er in Nürnberg wegen Führen eines Angriffskrieges verurteilt. Eine entlastende Aussage des US-Admirals Nimitz rettet ihm das Leben. Das Strafmaß lautet zehn Jahre.
Dönitz war vom völkischen Denken seiner Zeit geprägt. Er war besorgt, ob „nicht in hundert Jahren“ „durch planvolle Zersetzung und Überwucherung ein internationales proletarisches Gemisch entstanden“ sein werde, „das die Bezeichnung ‘deutsch’ nicht mehr verdient“. In Nürnberg verurteilte er das NS-Führerprinzip. Bei den Kriegsgegnern galt er als einer der größten Militärführer des Jahrhunderts, als „brillanter und untadeliger Stratege“ (Times), den man im Westen wie keinen anderen gefürchtet hatte. Kamen später Flottenverbände der Nato nach Hamburg, machten deren Kommandanten nicht selten „dem Löwen“, wie ihn seine U-Boot-Männer nannten, ihre Aufwartung.
Über die staatsrechtliche Bedeutung seines Einsatzes streiten die Gelehrten. In seiner „Mondorfer Erklärung“ vom 7. Juli 1945 verwahrte er sich gegen die Auffassung, daß Deutsche Reich sei untergegangen. Es bestehe fort und sei nur handlungsunfähig, urteilte später das Bundesverfassungsgericht.
Sein Durchhalten bis zum letzten Moment, sein Aufrechtstehen an der Spitze des Staatsschiffes, war aus Dönitz’ Selbstverständnis sein letzter Dienst am Vaterland, dessen staatlichen Überlebenswillen er zu verkörpern suchte. In seinem „Politischen Testament“ vom 8. Mai 1975 übertrug er „Inhalt und Aufgabe“ seines Amtes als Staatsoberhaupt dem jeweiligen Bundespräsidenten.
Mit Gründung der Bundesrepublik war der deutsche Staat wieder aufgetaucht. Nicht zufällig an einem 23. Mai. 1949 – vier Jahre nach dem Ende auf dem Hapag-Dampfer in der Flensburger Förde. Die „Patria“ kreuzte seit 1946 unter fremder Flagge und mit neuem Namen. Sie hieß jetzt „Rossija“.