Am 18. März 1990 war ich zum ersten und letzten Mal im Palast der Republik auf der Spreeinsel in Berlin. Die Glas-Stahl-Konstruktion, im Volksmund „Erichs Lampenladen“ genannt, beherbergte seit 1976 unter anderem die Volkskammer, das „Parlament“ der DDR. Das inzwischen abgerissene Mehrzweckgebäude stand an der Stelle des Berliner Stadtschlosses, das die DDR-Führung 1950 – trotz nur unbedeutender Kriegszerstörungen – demonstrativ sprengen ließ.
Vor 1990 wurden die Volkskammerabgeordneten über sogenannte Einheitslisten gewählt. Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und ihrer Vorfeldorganisationen wie etwa der Freien Deutschen Jugend (FDJ) hatten so automatisch immer die absolute Mehrheit. Einstimmige Entscheidungen waren bis zum Rücktritt von Staats- und SED-Chef Erich Honecker im Oktober 1989 üblich.
Damit sollte es nun endgültig vorbei sein. Den Wahlkampf zur ersten freien Wahl der Volkskammer hatten zwei Dutzend Parteien und Wahlbündnisse geführt – neue, „gewendete“ und alte. Zu letzteren zählte die erst im Februar 1990 endgültig in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umbenannte und ehemals staatstragende SED.
Deren bislang nur als demokratische Staffage agierende Blockparteien – die CDU und die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) sowie die 1948 auf Initiative der sowjetischen Besatzungsmacht gegründete Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) – waren bestrebt, sich zu emanzipieren. Als FDP-Mitglied hatte ich mich im Volkskammerwahlkampf für die – ab Februar wieder LDP heißenden – DDR-Liberalen engagiert und in Berlin, Wilhelmshorst bei Potsdam und Dippoldiswalde fünf Einsätze als Redner erlebt.
Die ganze Welt schaute damals nach Berlin
Am Abend des Wahltags waren Hunderte von Journalisten aus aller Welt im Palast der Republik versammelt und erwarteten mit Spannung die Wahlergebnisse. Diese würden – das war allen klar – über das weitere Schicksal des bislang geteilten Deutschland entscheiden. Der britische Sender BBC hatte mich eingeladen, die Wahlergebnisse für ihre Zuschauer und Hörer weit über Großbritannien hinaus zu kommentieren. So erhielt auch ich als westdeutscher Beamter Zutritt zum „Palast“.
Wie war ich zu dieser Ehre gekommen? Meine Beziehungen zur BBC hatten sich seit September 1989 immer enger gestaltet. In Ungarn war bereits im Frühjahr eine Bresche in den Eisernen Vorhang geschlagen worden, die die dortige kommunistische Regierung weder schließen konnte noch wollte (JF 17/09). Tausende DDR-Bürger, darunter zwei Verwandte von mir aus Dresden, kamen ungehindert nach Westdeutschland. Was würde aus der DDR werden, wenn das Loch nicht gestopft werden konnte? Die Frage bewegte die Welt; das politische Bonn konnte sich aber zu keiner Antwort entschließen.
Ich hatte als Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben (BfgA), das dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen unterstand und zuständig für Beobachtung und Analyse der DDR sowie politische Bildung war, keinen Zweifel daran, daß das DDR-Regime ohne „Mauer“ nicht existieren konnte. Das sagte ich anfragenden Journalisten nicht nur hinter vorgehaltener Hand, sondern auch ins Mikrofon.
Popularität Willy Brandts
Als der von mir erwartete Tadel meines Ministeriums ausblieb, wurde ich mutiger. Die BBC bot mir immer öfter ein Forum. An manchen Tagen gab ich ihren Mitarbeitern bis zu drei Telefoninterviews, die live über die Sender gingen. Meine Botschaft war: Die DDR ist verloren. Auf die Frage, was das bedeute, antwortete ich: „Die Wiedervereinigung.“ Britische Journalisten transportierten diese Aussage gern, konnten sie sich doch so von ihrer konservativen Premierministerin Margaret Thatcher abheben, die durch die Aussicht auf eine deutsche Wiedervereinigung mehr als beunruhigt war. >>
Im März 1990 sagten mir BBC-Gesprächspartner, die Zentrale in London wünsche mich als Kommentator am Wahlabend, weil alles, was ich vorhergesagt hatte, eingetroffen sei. Man erwarte, daß das so bleiben werde. Wie viele Beobachter rechnete auch ich – trotz der laut geäußerten Einheitsskepsis des SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine – mit einem eher guten Ergebnis der SPD.
Die Vorkriegsverankerung der Sozialdemokratie in Mitteldeutschland und die Popularität des langjährigen SPD-Chefs Willy Brandt schien mir noch nicht verblaßt. Angesichts der Vergangenheit der Block-CDU und wegen des geringeren deutschlandpolitischen Engagements der West-CDU in der Vergangenheit rechnete ich mit einem eher mäßigen Ergebnis für die Union.
Bei der PDS war ich sicher, daß sie höchstens 20 Prozent der Stimmen erreichen würde. Alles andere war für mich offen. Man hatte ja kaum Maßstäbe, Meinungsumfragen waren bis 1989 verboten, die letzten halbwegs freien Wahlen fanden 1946 zur Gesamtberliner Stadtverordnetenversammlung statt. Sie brachten 48,7 Prozent für die SPD, 22,2 Prozent für CDU, 19,8 Prozent für die SED und 9,3 Prozent für die LDP. Um so überraschender war der sensationelle 40,8-Prozent-Erfolg der CDU – bei einer bislang nie wieder erreichten Wahlbeteiligung von 93 Prozent. Zusammen mit den beiden Bündnispartnern Deutsche Soziale Union (DSU) und Demokratischer Aufbruch (DA) gewann die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) persönlich unterstützte Allianz für Deutschland damit knapp 48,2 Prozent der Stimmen und 192 von 400 Volkskammermandaten.
Niederlage der linken Parteien
Mir schien, daß auch Ost-CDU-Chef Lothar de Maizière nicht mit einem so guten Ergebnis gerechnet hatte. Ich werde nie vergessen, wie der künftige DDR-Ministerpräsident – bleich und ohne jedes Lächeln – von seinen Leibwächtern durch die dichtgedrängte Menge bugsiert wurde. Er erkannte wohl sofort, was nun an Verantwortung und Belastungen auf ihn zukommen würde. Die SPD kam mit 21,9 Prozent nicht einmal auf die Hälfte der Allianz-Stimmen. Die einst allmächtige PDS konnte nur 16,4 Prozent verbuchen.
Ein regelrechtes Debakel erlebten die im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Bürgerbewegten und linken DDR-Oppositionellen: Nur 2,9 Prozent bedeuteten lediglich zwölf Mandate. Die Grünen kamen im Bündnis mit dem Unabhängigen Frauenverband sogar nur auf zwei Prozent und acht Abgeordnete. Der kurz zuvor von den West-Grünen zur SPD übergewechselte spätere Bundesinnenminister Otto Schily war über die Niederlage der linken Parteien damals so frustriert, daß er in einem Fernsehinterview zum Ausgang der Volkskammerwahl zunächst wortlos und arrogant lächelnd eine Banane in die Kamera hielt – die Südfrucht hatte zu den zahlreichen und heißbegehrten Mangelerzeugnissen in der DDR gezählt. Die gemeinsam im Bund Freier Demokraten (BFD) angetretenen Liberalen hatten sich wohl ebenfalls etwas mehr erhofft als nur 5,3 Prozent. Ich als FDP-Wahlhelfer war dennoch glücklich. An diesem 18. März hatten sich die Wähler in der DDR klar für die Einheit entschieden.
Detlef Kühn, geboren 1936 in Potsdam, war bis zur Auflösung der Behörde Ende 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben.
JF 12/10
Weitere Artikel über die Volkskammerwahl 1990 in der aktuellen Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT .