Vor dreißig Jahren ging in Kambodscha die Herrschaft der Roten Khmer zu Ende. Es war eine gespenstische Szenerie, die sich den vietnamesischen Truppen am 7. Januar 1979 in Phnom Penh bot, der Hauptstadt des demokratischen Kampuchea: Auf ihren großzügigen Boulevards tummelten sich nur Hunde und Schweine, ihre prächtigen im Stil des Second Empire erbauten Häuser waren geschlossen, verriegelt und verbarrikadiert, aus ihnen gähnten dunkle Fensterhöhlen – aber vor allem lag eine beängstigende Stille über der Stadt: Phnom Penh, die einstige Zwei-Millionen-Metropole war menschenleer. Viele Schicksale ihrer früheren Bewohner hatten sich bis dato im Angka erfüllt, in den mörderischen Institutionen jenes Tugendstaates, den die kambodschanischen Kommunisten um Pol-Pot zwischen 1975 und 1979 errichteten: in den landwirtschaftlichen Kooperativen, wo sie nach zwölf Stunden Arbeit, drei Stunden Umerziehung und sieben Stunden Schlaf an Hunger und Entkräftung starben; auf den Reisfeldern, wo sie verscharrt und anschließend als Dünger verwendet wurde; in den Gefängnissen, wo Folterknechte sie mit Eisenstangen und Elektroschocks zu Tode quälten; und schließlich auf den berüchtigten Killing Fields, wo man sie zu Tausenden mit Schaufeln erschlug, um Munition zu sparen. Ideen der Aufklärung und des utopischen Sozialismus Die Geisterstadt Phnom Penh stand im Januar 1979 für die Tragödie des ganzen Landes: Etwa zwei Millionen Menschen, so besagen vorsichtige Schätzungen, fielen in nur vier Jahren dem Terror der Roten Khmer zum Opfer, das war fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Erst die Invasion der Vietnamesen setzte dem barbarischen Treiben ein Ende – doch sie bedeutete nicht das Ende der Roten Khmer: Nach dem Einmarsch der Sozialistische Republik Vietnam zogen sie sich ins Grenzgebiet zu Thailand zurück und sind dort auch heute noch im Untergrund aktiv. Gewiß – heute ist Kambodscha eine konstitutionelle Monarchie mit einem Mehrparteiensystem, und ein internationales Tribunal untersucht seit 2007 die Verbrechen der Roten Khmer. Doch auch nach dreißig Jahren schockiert dieser blutige Revolutionsversuch der kambodschanischen Kommunisten, in dem man die Stadtbewohner zum Arbeitsdienst aufs Land evakuierte, in dem es nur rationierte Gemeinschaftsverpflegung gab, in dem das Geld abgeschafft war und in dem vor allem Menschen erbarmungslos getötet wurden: bei unerfüllten Arbeitsleistungen, bei der leisesten Kritik an der Partei, beim verbotenen Gang in Pagode oder Moschee, ja selbst bei unerlaubtem Lachen, Weinen oder Jubeln. All das, so sahen es die Roten Khmer, waren Reste kapitalistisch-individualistischer Mentalität, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müßten. Die Roten Khmer wollten so mit einem Schlag das kommunistische Paradies auf Erden errichten – sie übertrafen darin selbst Stalin und Mao, für die dieses Ziel nur in einer Übergangsperiode zwischen Sozialismus und Kommunismus zu erreichen war. Die Gründe für diese beispiellose Radikalität wurzeln nicht zuletzt in der Ideologie des Terrorregimes von Pol Pot. Sie beinhaltete neben dem Marxismus-Leninismus und Maos kulturrevolutionärer Lehre auch eine besondere anthropologische Vision: In einem jeden Mensch, so glaubten die Roten Khmer, schlummere eine egalitäre Haltung, die den Gedanken des Eigentums nicht kenne und private Interessen sofort den öffentlichen unterordne. Es waren Ideen der französischen Aufklärung und des utopischen Sozialismus, die sie dazu inspirierten – enthalten in den Schriften von Jean Jacques Rousseau (1712-1778), Henri de Saint-Simon (1760-1825) und Charles Fourier (1772-1837). Einige der Protagonisten der Roten Khmer hatten sich mit ihnen vertraut gemacht, als sie in den 1950er Jahren in Frankreich, der einstigen Kolonialmacht studierten: so Pol Pot, der allerdings erfolglos ein paar Semester Radioelektronik belegte, so sein enger Vertrauter Khieu Shampan, der an der Sorbonne über die kambodschanische Wirtschaft promovierte, und so auch Ieng Sary, der frühere Außenminister des demokratischen Kampuchea. Um die egalitäre Grundposition wieder freizulegen und einen neuen Menschen zu erziehen, versuchten die Roten Khmer, das abzuschaffen, was ihnen zufolge für deren alleinige Korruption verantwortlich war: die moderne Großstadt mit ihren Märkten und Banken und dem dazugehörigen Bürgertum. Auch darin folgten sie aufklärerischen und kommunistischen Ideen: Bereits Rousseau, der das tugendreiche ländliche Leben pries, sah die Stadt als Hort von Laster und Entfremdung an, in der man nicht mehr wagt, als der zu erscheinen, der man ist, der linksrevolutionäre Gracchus Babeuf (1760-1797) wollte sie aus diesem Grund während der Französischen Revolution verschwinden lassen, und selbst Marx und Engels gaben sich der Utopie hin, daß der Unterschied zwischen Stadt und Land in einem langen Prozeß eliminiert werden könne. Diese Sichtweisen bekamen für die Führungsriege der Roten Khmer eine um so größere Bedeutung, da sie aus der französischen Geschichte wußte, daß die Pariser Kommune durch die einheimische Bourgeoisie zu Fall gebracht wurde. Vor allem Pol Pot bewunderte diese revolutionäre Bewegung von 1871: Für ihn stellte sie den einzigen historischen Versuch dar, bei dem die Armen die Macht ergriffen – noch in seinen Aufzeichnungen aus den 1980er Jahren sollte er sich darauf beziehen. Die Konsequenzen, die die Roten Khmer daraus zogen, sind bekannt: Bereits kurz nach ihrer Machtergreifung am 17. April 1975 begannen sie die Einwohner von Phnom Penh und allen übrigen Provinzhauptstädten zu deportieren, um die Netze der feindlichen Kräfte zu zerstreuen und sie mit den Schwierigkeiten des ländlichen Lebens vertraut zu machen, die Roten Khmer gingen sogar soweit, darin eine Art Rache zu sehen. Bürgertum als Netz der feindlichen Kräfte ausrotten Die Deportationen hatten von Anfang an den Charakter von Todesmärschen, bei denen vor allem Frauen, Kinder und Alte die Strapazen im Dschungel nicht überlebten, aber auch in den ländlichen Kooperativen suchten sie mit ihren barbarischen Methoden, das neue Volk der Städte an das alte Volk des Landes anzugleichen: Ihr Terror richtete sich daher vor allem gegen das gebildete städtische Bürgertum: gegen Ärzte, Lehrer oder Angehörige der technischen Intelligenz – selbst ein Brillenträger galt ihnen mehr als nur ein potentieller Feind. Gewiß – den Mördern um Pol Pot kamen auch nationale Besonderheiten entgegen: Anders als China, Vietnam oder Laos, wo der Konfuzianismus vorherrscht, ist Kambodscha stärker buddhistisch geprägt. Der weitverbreitete Glaube an die Wiedergeburt führte bei vielen Kambodschanern zu Fatalismus gegenüber der Brutalität der Roten Khmer. Zusammen mit der typisch asiatischen Geringschätzung des Individuums und dem gleichfalls eigentümlichen Verhältnis zur Gewalt mag es hier einen fruchtbaren Boden gegeben haben – doch bleibt es eine Tatsache, daß die Blutspur des Kommunismus in Kambodscha eine besonders große Lache hinterlassen hat. Bild: Schädel von Opfern der Roten Khmer im Tuol-Sleng-Museum (Museum des Völkermords) in Phnom Penh: Unerlaubtes Lachen oder das Tragen einer Brille reichte oft schon als Todesurtei Bild: Pol Pot 1979 in einem Guerilla-Lager an der thailändischen Grenze: Kapitalistische Mentalität mit Stumpf und Stiel ausrotten
Meldungen Winston Churchills Staatsterrorismus BERLIN. Zu vermelden ist ein sensationeller Text. Der in Melbourne lehrende Philosoph Igor Primoratz macht sich Gedanken über Das Bombardement deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, das er als moralische Frage reflektiert und in der auch vom Beirat Jürgen Habermas mitverantworteten Deutschen Zeitschrift für Philosophie (Heft 3/08) zur Diskussion stellt. Und Habermas ist ein Gesinnungsfreund des USGroßdeuters Michael Walzer wie des gleichfalls von Primoratz vernichtend kritisierten Zeitgeistformatierers Hans Magnus Enzensberger, die beide zu den beflissenen Apologeten des alliierten Bombenterrors zählen. Denn als Vergeltung oder als Abwehr der allerletzten Bedrohung der Menschheit durch den Nazismus, so diese famosen Moralisten, scheint ihnen die Tötung von 600.000, die schwere Verwundung von 800.000 und die Obdachlosigkeit von 13 Millionen Menschen sowie die Zerstörung unermeßlicher kultureller Reichtümer per se gerechtfertigt. In einer ebenso knappen wie bestechenden Argumentation hält Primoratz dagegen: Gerechte Vergeltung muß proportional sein. Die Zahl der durch Royal und U.S. Air Force getöteten deutschen Zivilisten übertraf aber die der durch Luftwaffe und V-Waffen-Beschuß getöteten Briten um das Zehnfache. Ein äußerster Notfall, der Sieg des Nazismus, drohte einige Monate im Jahr 1942. Spätestens nach Stalingrad war die deutsche Niederlage besiegelt und der Luftterror also nicht mehr kriegsentscheidend. Fazit: Der Bombenkrieg war schlicht und ergreifend eine Greueltat, ein Kriegsverbrechen riesigen Ausmaßes, die längste und tödlichste Kampagne des Staatsterrorismus in Kriegszeiten. Plettenberg: Zentrum Bonner Geistesgeschichte PLETTENBERG. Nachdem der Carl-Schmitt-Förderverein im letzten Jahr im langjährigen Nachkriegsasyl seines Namenspatrons gegründet wurde (JF 10/07), präsentiert er sich seinen Mitgliedern mit dem ersten Heft der Plettenberger Miniaturen. Es widmet sich den Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag des Staatsrechtlers, der 1978 natürlich von Bonn ignoriert wurde, der aber, ein imposantes Foto mit der Gratulantenschar beweist es, doch Anlaß gibt, darüber zu reflektieren, ob das sauerländische Industriestädtchen nicht dank seines berühmtesten Sohnes zu einem zentralen Ort in der Geistesgeschichte der westdeutschen Bundesrepublik geworden ist. Der Althistoriker Christian Meier, dem hier in einem Gespräch Impressionen seiner häufigen Schmitt-Besuche entlockt werden, hat gegen diese Zuschreibung nichts einzuwenden – sich an eine neidische Habermas-Äußerung erinnernd, der zufolge es in Plettenberg leider interessanter gewesen sei als in Frankfurt.